Reinhard Valenta

Der 8. April 1945 hätte der schönste Tag im Leben der zehnjährigen Hildegard Rutschmann (heute Wetzel) werden können: Ihre Mutter Paula – Weißnäherin von Beruf – hatte aus Stoffresten ein Kommunionkleid gezaubert. In der Küche duftete es nach Kuchen. Die Büche-Tanten Anna und Marie waren zu Besuch. Dieser Tag hätte so schön sein können, wenn kein Krieg gewesen wäre.

Schneidermeister Benno Rutschmann kam an Pfingsten 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Das Foto wurde für das ...
Schneidermeister Benno Rutschmann kam an Pfingsten 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Das Foto wurde für das Kommunion-Album von Tochter Hildegard wenig später aufgenommen. | Bild: Repro: Reinhard Valenta

Schlimm war die Ungewissheit, ob Vater Benno an diesem Weißen Sonntag 1945 überhaupt noch lebte. Er war bei der Wehrmacht. Der Gottesdienst fand um 6 Uhr früh in der verdunkelten St. Martinskirche statt. Da flogen noch keine Jagdbomber über Wehr. Pfarrer Wildemann hatte erwogen, die Feier zu verlegen. „Wie heute mit Corona“, sagt Hildegard Wetzel, „nur dass damals Krieg war.“

Hildegard Rutschmann am Weißen Sonntag 1945: Das Kleid hatte ihre Mutter aus Resten genäht. Pfarrer Stephan Wildemann hätte die ...
Hildegard Rutschmann am Weißen Sonntag 1945: Das Kleid hatte ihre Mutter aus Resten genäht. Pfarrer Stephan Wildemann hätte die Kommunion beinahe wegen der anrückenden Franzosen verschoben. Er starb am 19.11. 1946 in Wehr. | Bild: Repro: Reinhard Valenta

Genau 16 Tage später, am Dienstag, 24. April 1945, um 8 Uhr abends zog der Krieg in Wehr ein – friedlich. Am Mittag hatten Tiefflieger noch einmal sein hässliches Gesicht gezeigt und Wehr beschossen. „Bevor die Franzosen kamen, hatte Mutter etwa um 6 Uhr ein weißes Tuch an einer Bohnenstange aus dem Fenster gehängt. Wir wohnten in dem Haus neben Wein-Brugger. Die Panzer kamen gegen 8 Uhr die Schopfheimer Straße hinauf. Vom Fenster aus sahen wir sie anrollen.“

Basilissa Prutscher, geborene Schlageter, um 1940. Die Großmutter von Klaus Marksteiner stammte aus Schwarzenbach/Todtmoos und führte ...
Basilissa Prutscher, geborene Schlageter, um 1940. Die Großmutter von Klaus Marksteiner stammte aus Schwarzenbach/Todtmoos und führte einen Kolonialwarenladen in der Hauptstraße. | Bild: Repro: Reinhard Valenta

Dass kein einziger Schuss fiel und, abgesehen von Plünderungen, die Bevölkerung unbehelligt blieb, hat eine Vorgeschichte. Sie wurde von Fridolin Jehle in der Wehrer Chronik, allerdings unter falschem Datum, erzählt. Er nennt als Tag des Einmarschs den 25. April. Die Panzer seien gegen 6 Uhr abends „über die Eichener Höhe“ gekommen und von August Kaiser im Flienken erwartet worden. Das stimmt nur zum Teil. Lassen wir Zeitzeugen sprechen.

Ein Brief als Zeugnis

Claire Denk, Frau des Wehrer MBB-Chefs Dr. Anton Denk, beschrieb ihren Eltern in einem Brief den Einmarsch. Seit Tagen herrschte Nervosität. Nachts wurden weiße Laken am Schlössle befestigt, tags darauf wurden sie von der Gendarmerie wieder abgehängt. Da man Plünderungen durch die Franzosen befürchtete, wurden am Montag rationierte Waren zum Kauf freigegeben. Am Tag des Einmarschs beschossen Tiefflieger ein letztes Mal Wehr – ein Signal, das im Rathaus ankam, zumal die deutschen Soldaten auf und davon waren. „Gegen 6 Uhr abends wurde ausgeschellt, dass feindselige Handlungen unterlassen bleiben sollen.“ Dann fuhr eine Abordnung in einem Auto den Franzosen „auf die Haseler Höhe“ entgegen. Sie kamen nicht von Schopfheim, sondern über Hasel von Hausen. Das Hebeldorf war um 6 Uhr eingenommen worden, wobei es einen Toten gab.

Eine Schlüsselfigur

Dass August Kaiser und Ernst Lenz zum Bürger-Komitee gehörten, ist verbürgt. Aber die Schlüsselfigur fehlt! Hildegard Wetzel lüftet das Geheimnis: „In dem Auto saß auch Ruth Lettenmeyer – als Dolmetscherin. Sie war die Tochter der Ochsen-Wirtin Maier.“ Inge Leber, Ruth Lettenmeyers Tochter, bestätigt das: „Meine Mutter war Kindermädchen bei einem Advokaten in Paris gewesen und sprach daher exzellent Französisch.“

Die legendäre „Ochsen-Wirtin“ Ruth Lettenmeyer umringt von einer Busgesellschaft in den 1950er Jahren. Sie sprach fließend ...
Die legendäre „Ochsen-Wirtin“ Ruth Lettenmeyer umringt von einer Busgesellschaft in den 1950er Jahren. Sie sprach fließend französisch und hatte daher viele französische Offiziere als Gäste im „Ochsen“. | Bild: Repro: Reinhard Valenta

Ruth war eloquent und hatte Humor. Dass Franzosen erfreut sind, wenn sie im Idiom der „Grande Nation“ angesprochen werden, ist bekannt. Es kann gut sein, dass die charmante Ruth Lettenmeyer den Kommandeur der Kampftruppe gnädig stimmte und Wehr vor Racheaktionen bewahrte.

Der Einmarsch

Als die Kolonne hinunter zum Kaufhaus Bär rollte, wurde sie „von der jubelnden Menge an der Straßenkurve“ begrüßt, so Claire Denk. Die Frauen warfen den Befreiern „Blumen und Äpfeln zu“, eine Geste des Friedens. Klaus Marksteiner sah, „dass auch Getränke gereicht wurden“. Die Franzosen revanchierten sich mit Bonbons für die Kinder. „Ich rannte zur Ecke vor dem Kaufhaus Bär, um möglichst viele zu ergattern“, erzählte der 2018 gestorbene Peter Schrempp.

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Die folgenden Tage waren bewegt. Ehe sie weiterzogen, schliefen die Soldaten in den Häusern und requirierten, was nicht niet- und nagelfest war. „Die betagte Frau Prutscher machte an einem Abend 40 Schnitzel und über 30 Spiegeleier“, so Denk. „Das stimmt“, erinnert sich Klaus Marksteiner. „Sie verlangten von meiner Oma Basilissa Kartoffelpüree zu den Schnitzeln. Mein Bruder Peter, der Klavierunterricht bei Frau Honigberger hatte, spielte Klavierstücke als Tafelmusik – sogar Stille Nacht, heilige Nacht.“

Die Franzosen wurden als Befreier begrüßt. Sie führten ein hartes Regiment, was man ihnen nicht verübeln kann. Nicht sie hatten den Krieg begonnen. Schlimme Racheaktionen gab es in Wehr keine. Heute sind sie unsere Freunde. Schade, dass Corona die Grenzen zu unseren Nachbarn geschlossen hat. Doch bald werden sie hoffentlich wieder geöffnet.