Zwischen 40 und 50 Jahre alt dürfte der Mann gewesen sein, als der Scharfrichter ihm auf der Richtstätte bei Allensbach mit einer schlanken, scharfen Klinge den Kopf vom Hals schlug. Der Anthropologe Michael Francken vom Landesamt für Denkmalpflege zeigt den sauber durchtrennten Halswirbel, an dem er das erkennen kann. So wie die Klingenführung aussehe, sei für die Enthauptung eher ein Schwert als eine Axt verwendet worden.

Geborgen von Archäologen

Es ist das zweite von einem Dutzend weitgehend kompletter Skelette, die der Kreisarchäologe Jürgen Hald mit seinem Team geborgen hat und nun auf dem Arbeitstisch von Francken liegt. Und der Anthropologe kann daraus einiges ablesen über den Mann, dem es gehörte. „Wir können anhand der Knochen ein Leben zusammenpuzzlen“, sagt Francken.

Der Anthropologe Michael Francken zeigt hier den sauber durchtrennten Halswirbel des Hingerichteten.
Der Anthropologe Michael Francken zeigt hier den sauber durchtrennten Halswirbel des Hingerichteten. | Bild: Zoch, Thomas

Aus dem Leben des Delinquenten

„Interessant ist, dass er insgesamt ein relativ gutes Skelett zeigt“, erklärt der Fachmann. „Er hat für sein Alter relativ wenig Gelenkabrieb. Ob er körperlich schwer gearbeitet hat, wage ich zu bezweifeln. Jemand, der auf dem Feld arbeitet, würde in dem Alter schon andere Verschleißerscheinungen zeigen.“ Außerdem gebe es relativ wenig Abrieb bei den Zähnen, und die Knochen zeigten keine Mangelerscheinungen, so Francken. „Die Knochen reagieren darauf, wenn die Nahrung nicht die richtige Mischung hat.“

Die porösen Stellen am Gelenk des Großzehenknochen lassen erkennen, dass der Mann zu Lebzeiten an einer Knochenmarksentzündung gelitten ...
Die porösen Stellen am Gelenk des Großzehenknochen lassen erkennen, dass der Mann zu Lebzeiten an einer Knochenmarksentzündung gelitten hatte. | Bild: Zoch, Thomas

Eisenmangel macht Augenhöhlen porös

Mangel an Eisen lasse sich anhand von porösen Augenhöhlen erkennen. Doch dieser Delinquent konnte sich offenbar mehr leisten als nur die einfachste Nahrung. Zahnstein lasse auf proteinreiche Ernährung schließen – wie zum Beispiel durch Fleisch. „Er scheint nicht zur Landbevölkerung gehört zu haben.“ Ein Händler oder Handwerker könnte er gewesen sein, meint Francken. Er wolle sich die Fingerknochen noch genauer anschauen, denn an deren Sehnenansätzen könne er ablesen, wie hoch die Belastung war, ob der Mann mit leichten oder schweren Gegenständen zu tun hatte.

Kreisarchäologe Jürgen Hald zeigt, wie der Galgen einst ausgesehen haben könnte.
Kreisarchäologe Jürgen Hald zeigt, wie der Galgen einst ausgesehen haben könnte. | Bild: Lukas Ondreka

Fazit: Gesund, aber nicht kerngesund

Doch kerngesund war der Mann zu Lebzeiten nicht. Er hatte zum einen Karies, erklärt Francken. Ein Zahn ist fast komplett weggefault. Und das Gebiss zeige Schmelzhypoplasien. „Das deutet darauf hin, dass es während der Kindheit mal eine Stressphase gab.“ Dafür könnte es verschiedene Ursachen gegeben haben – wie eine Erkrankung, Mangelernährung oder Parasitenbefall. Und als Erwachsener habe der Mann eine Infektion durchlebt, offen welcher Art und Ursache. Das sei an der Knochenhaut erkennbar. Zudem sehe man an den Füßen an porösen Stellen: „Er hatte im Großzehengelenk eine Knochenmarksentzündung.“

Jüngst fand das Grabungsteam eine Grube mit drei Skeletten übereinander direkt zwischen den Fundamenten der Pfeiler des Galgens. Hier ...
Jüngst fand das Grabungsteam eine Grube mit drei Skeletten übereinander direkt zwischen den Fundamenten der Pfeiler des Galgens. Hier wurden im Lauf der Zeit also mehrere Hingerichtete verscharrt. Das unterste Skelett (oben, quer liegend zu den anderen beiden) stammt vermutlich von einer Frau. | Bild: Zoch, Thomas

Wann fand die Hinrichtung statt?

In welcher Zeit dieser Delinquent sein grausames Ende bei Allensbach fand, sei schwer zu sagen, erklärt Michael Francken. Er schätzt grob vor ein paar hundert Jahren, aber sicher nicht im frühen Mittelalter. Andernfalls wären die Knochen schlechter erhalten. Zumal der Boden unter der Allensbacher Richtstätte, wo die Hingerichteten verscharrt wurden, eher lehmig, sandig und kiesig sei. Darin würden sich Knochen kürzer erhalten als etwa in kalkigem Boden. Francken nennt als Beispiel ein Skelett, das ihm kürzlich die Polizei zur Untersuchung gebracht habe. „Das sah relativ frisch aus, ist aber vermutlich 6000 Jahre alt.“

Die Ausgrabungsstätte bei Allensbach von oben. Hier haben die Experten über Wochen hinweg gegraben.
Die Ausgrabungsstätte bei Allensbach von oben. Hier haben die Experten über Wochen hinweg gegraben. | Bild: Lukas Ondreka

Und noch ein Skelett

Ganz anders liegt der Fall beim ersten Skelett aus der Richtstätte, das Francken auf seinem Tisch hatte. Die Knochen dieses Mannes seien schlechter erhalten als beim oben beschriebenen Delinquenten, er könnte also schon früher hingerichtet worden sein. Aber wie? Hierüber sei nichts zu erkennen am Skelett, so Francken: „Er wurde definitiv nicht geköpft.“ Es sei aber auch kein Genickbruch erkennbar, wie er beim abrupten Hängen eintritt. Man kann nur spekulieren, ob dieser Mann vielleicht langsam an dem mächtigen Galgen hochgezogen wurde und dabei qualvoll erstickte. Auch dessen Leben war anders als beim oben beschriebenen Fall, wie die Knochen verraten. „Er hatte mal einen Unterschenkel gebrochen“, sagt Francken.

Sein Alter: Jenseits der 50

Der Bruch sei zwar verheilt, aber nicht an der richtigen Stelle wieder zusammengewachsen, weshalb ein Bein etwas kürzer war. „Das war ein relativ altes Individuum. Der war jenseits der 50“, hat der Anthropologe festgestellt. Ausgeprägte Muskelmarken, das „lässt auf körperliche Aktivität schließen.“ Dass dieser Mann härter und mehr mit Kraft arbeiten musste, zeige sich zudem am Verschleiß, sagt Francken: „An Gelenken wie auch am Rücken gibt es Verschleißerscheinungen, die schon in den arthrotischen Bereich gehen.“

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Zehn weitere Skelette auf dem Tisch

Die spannende Arbeit von Michael Francken wird noch längere Zeit dauern. Neben den zehn weiteren, praktisch kompletten Skeletten gibt es noch zahlreiche Knochen, die an der Allensbacher Richtstätte lose verstreut gefunden wurden – offenbar von Gehängten, die so lange am Galgen gelassen wurden, die Leichname auseinander fielen. Hier gelte es herauszufinden, zu wie vielen Individuen diese Knochen gehörten. Auch die verkohlten Knochenfragmente aus den Brandgruben bei der Richtstätte werden Spezialisten noch weiter untersuchen. Derzeit gehen Francken und Hald davon aus, dass 20 bis 25 Menschen hier den abrupten Tod fanden – mindestens seit dem 15. Jahrhundert und bis ins späte 18. Jahrhundert.