Das Thema ist unbequem. Auch mehr als 75 Jahre danach läuft einem beim Befassen damit ein Schauer über den Rücken – die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zwischen 1933 und 1945. Ein Regime, das die Vernichtung der Juden als politisches Ziel verfolgte. Ebenso wie die Vernichtung vieler weiterer Individuen, die der Verwirklichung der völkischen Utopie angeblich im Weg standen.
Die Erinnerung muss bleiben
Nichts kann diese Taten wieder gutmachen. Aber zumindest die Erinnerung daran muss wachgehalten werden. Schon im nächsten Jahr soll man deshalb in Engen über die Opfer des NS-Regimes und deren Geschichten sinnbildlich stolpern. 15 sogenannte Stolpersteine wird der Künstler Gunter Demnig in Engen und seinen Ortsteilen verlegen.
Vor der Verlegung kam allerdings die intensive Recherche des ehemaligen Kreisarchivars Wolfgang Kramer. Im Auftrag des Gemeinderats machte er sich auf die Suche in verschiedenen Archiven nach Engener Opfern des NS-Regimes.
Seine Recherchen brachten 15 Opfer zum Vorschein. Deren Geschichte stellte Wolfgang Kramer kürzlich öffentlich in der Stadthalle auf Einladung der Stubengesellschaft vor. Dem SÜDKURIER gab der Archivar Einblicke in seine Recherchearbeit und Hintergründe.

Anderthalb Jahre lang hat Wolfgang Kramer im Engener Stadtarchiv und über staatliche Archive nach Opfern und deren Schicksal gesucht. „Es ist nur ganz wenig dokumentiert über die NS-Zeit“, musste Kramer feststellen. Er habe gerade einmal eine schmale Akte zu politisch Verfolgten gefunden.
Aus seiner Berufserfahrung weiß er, dass nach dem Kriegsende viele Akten „kassiert“, also weggeschafft wurden. Viele Schicksale, gerade die der Euthanasie-Opfer, ließen sich auch nicht eindeutig nachvollziehen, so Kramer.
Das sind die NS-Opfer
Auf seiner Suche konnte er aber auch viele Geschichten deutlich nachskizzieren. So, um nur zwei Beispiele zu nennen, die von Anna Maria Blunder, die im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben kam und die von dem jüdischen Arzt Dagobert Rynar, der ein Berufsverbot erhielt.
Anna Maria Blunder wurde in der Peterstraße 3 geboren, wo bald ein Stolperstein an sie erinnern soll. Sie kam aus einer armen Familie, lebte in verschiedenen Städten wurde mehrfach wegen Diebstahls und Betrugs bestraft. Für das Regime war sie eine „Asoziale“. Sie kam zuerst ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und dann nach Auschwitz, wo sie am 5. September 1942, angeblich an einer Grippe, verstarb.
Dem jüdischen Arzt und Musikwissenschaftler Dagobert Rynar, der in Engen ein hohes Ansehen genoss, gelang hingegen die Flucht in die USA. Zuvor praktizierte er von 1931 bis 1937 in Engen in der Breitestraße 5, wo im Gedenken an ihn ein Stolperstein verlegt werden soll. 1933 wird ihm die kassenärztliche Zulassung entzogen. Die Menschen kommen dennoch weiter zur Behandlung zu ihm, auch wenn ihm einzelne Engener wie ein Zahnarzt im selben Haus übel mitspielten.
Alber Einstein bürgte für ihn
1937 wird ihm schließlich vorgeworfen, er habe illegale Abtreibungen unternommen. Auch wenn ein Gericht seine Verfolgung aussetzt, flieht Rynar über die Schweiz in die USA. Als Fürsprecher für seine Einreise trat kein geringerer als Albert Einstein ein, mit dem er noch in Deutschland bei mehreren Konzerten musiziert hatte. Im Rahmen seines Vortrags plädierte Kramer für die Benennung einer Straße in Engen nach Dagobert Rynar.
Kommen noch weitere Opfer ans Licht?
Bei seiner Arbeit sei er bei den Angehörigen von Opfern immer wieder auf große Zurückhaltung in Bezug auf die Stolpersteine gestoßen. Sie brächten sie in Verbindung mit Verfolgung und Ermordung, so die Angst der Nachfahren. Wolfgang Kramer ist da aber ganz anderer Meinung: „Man muss das anders sehen. Es ist ein stetiges Erinnern an ein schreckliches Verbrechen.“
Um diese Erinnerung auch an die junge Generation weiter zu tragen, möchte Kramer direkt auf die Schulen zugehen. Er möchte die Geschichten erzählen und die Schüler ermutigen bei Zeitzeugen selbst nachzufragen oder auch nach Überbleibseln aus dieser Zeit in Speichern und Kellern zu suchen. „Eventuell kommen so auch noch weitere Opfer ans Licht“, so Kramer. Denn einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt seine Recherche nicht.