Zufrieden sitzt die kleine Merle auf dem Schoß ihrer Mutter und beobachtet interessiert, was um sie herum passiert. Dass sie sich von den meisten Kindern in Deutschland unterscheidet, wird sie erst in einigen Jahren begreifen. Denn das vier Monate alte Mädchen gehört zu den wenigen Kindern, die zu Hause geboren wurden. Nur zwei von 100 Kindern kommen in Deutschland außerklinisch, daheim, in einem Geburtshaus oder einer Praxis zur Welt.
Auf der Suche nach alternativen Geburtsmöglichkeiten
Für Merles Mutter Annika Kopp stand schon vor der Schwangerschaft fest, dass sie zur Entbindung nicht in eine Klinik wollte. Im Bekanntenkreis hatte sie von einer Hausgeburt gehört und war sofort von der Idee angetan. Gleich nachdem sie den positiven Schwangerschaftstest in den Händen hielt, ging sie in ihrem Wohnort in der Nähe von Ravensburg auf die Suche nach alternativen Geburtsmöglichkeiten.
Leider erfolglos, denn mehrere Hebammen, die in Ravensburg gemeinsam außerklinische Geburten anbieten, konnten sie trotz der frühen Anmeldung nicht mehr aufnehmen.
Im westlichen Hegau fündig geworden
Da Annika Kopp jedoch von der Idee einer Hausgeburt überzeugt war, setzte sie die Suche in ihrem Heimatort Hilzingen fort und wurde fündig. Denn im Vergleich zu anderen Regionen, wo keine Hebammen außerklinisch Geburtshilfe leisten, gibt es im Landkreis Konstanz gleich vier, die in zwei Zweier-Teams arbeiten.
Während Frederike Bohl und Rahel Stuhlmann mit ihrer Praxis in Allensbach eher im östlichen Landkreis im Einsatz sind, konzentrieren sich Heidrun Ullmann in Radolfzell und Taryn-Cinzia Dominguez in Singen mehr auf den westlichen Hegau. Wobei hier keine strikten Grenzen gesetzt seien.
Ihr Einzugsgebiet reiche bis nach Friedrichshafen, da seit der Schließung des Geburtshauses in Überlingen im Februar 2020 im Bodenseekreis eine Unterversorgung herrsche, berichtet Ullmann. Für Annika Kopp hatte die Geburt ihrer Tochter im Hause ihrer Eltern gleich mehrere Vorteile. Im Gegensatz zu einer Geburt im Krankenhaus wusste sie schon im Vorfeld, welche Hebamme sie bei der Geburt begleiten würde. Zum anderen konnte sie in der heimischen Atmosphäre deutlich besser entspannen.
Fahrt in die Klinik bleibt erspart
„Ich hatte vollstes Vertrauen und konnte mich völlig fallenlassen“, berichtet sie von der Geburt. Der Transport in die Klinik, der meist zu einer Geburtsunterbrechung führe, blieb ihr erspart. Und auch ihr Mann Samuel sei viel stärker in die Geburt involviert gewesen, als dies im Krankenhaus der Fall gewesen wäre. „Es war ein schönes Gefühl, meine Frau aktiv unterstützen zu können“, erklärt der frischgebackene Vater.
Gespräche mit Hebammen gaben Sicherheit
Mutig findet Annika Kopp die Entscheidung nicht, ihr erstes Kind zu Hause zur Welt zu bringen. Im Gegenteil: „Es hätte mich mehr Mut gekostet, ins Krankenhaus zu gehen. Da hätte ich überhaupt nicht gewusst, was auf mich zukommt“, ist die 25-Jährige überzeugt. Die Gespräche mit den beiden Hebammen im Vorfeld hätten ihr und ihrem Mann, der zunächst noch Zweifel hatte, Sicherheit gegeben. Dabei wurde unter anderem auch festgelegt, in welcher Klinik die Geburt fortgesetzt werde, sollte dies zu Hause nicht möglich sein. Denn 15 Prozent der geplanten Hausgeburten müssen in eine Klinik verlegt werden.

Nach ihren positiven Erfahrungen können sich Annika und Samuel Kopp noch viel weniger vorstellen, zur nächsten Entbindung in ein Krankenhaus zu gehen. Wobei sie auch Verständnis für jeden haben, der sich anders entscheidet. Sie seien sehr dankbar, dass Heidrun Ullmann und Taryn-Cinzia Dominguez die Geburt ihrer Tochter zu Hause ermöglicht hätten. Man merke den beiden Hebammen an, dass ihr Beruf für sie Berufung sei.
Freiberufliche Hebammen haben Schritt nicht bereut
Während Heidrun Ullmann bereits seit fast 25 Jahren als freiberufliche Hebamme tätig ist, wagte Dominguez erst im Herbst 2021 nach über 20 Jahren Hebammenarbeit in den Krankenhäusern in Singen, Stühlingen und Münsterlingen (Schweiz) den Sprung in die Selbstständigkeit. Ein Schritt, den sie nicht bereut habe. Denn im Klinikalltag, so sagt sie, sei sie auch schon mal für sieben Frauen gleichzeitig auf der Geburtsstation zuständig gewesen. Ein Zustand, der nicht ihrem Qualitätsanspruch entsprochen habe.
Reich werden Hebammen damit nicht
Die Arbeit als Zweier-Team erlaube es ihnen, sich bei der Rufbereitschaft abzuwechseln. Denn für jede werdende Mutter stehen sie drei Wochen vor und zwei Wochen nach dem Geburtstermin rund um die Uhr bereit. Im Fall der kleinen Merle kam der Anruf zur Entbindung nachts um halb eins. Da dieser Service von den Krankenkassen nicht vergütet werde, fiel eine Rufbereitschaftspauschale in Höhe von 600 Euro an.
Sollte sich ein Paar in finanziell schwieriger Lage befinden, sich trotzdem aber eine Hausgeburt wünschen, fände man auch Mittel und Wege, sind sich die beiden Hebammen sicher.
Dabei machen Ullmann und Dominguez aus einem keinen Hehl: Reich wird man als Hebamme, die Hausgeburten betreut, nicht. Doch ein Argument, das gerne von anderen Hebammen gegen Hausgeburten vorgebracht werde, könnten sie so nicht stehen lassen: Die hohe Prämie für die Berufshaftpflichtversicherung der Geburtshelferinnen. Zwar werden hierfür mehr als 11.000 Euro pro Jahr fällig. Doch bekämen sie 70 Prozent der Prämie von den Krankenkassen zurückerstattet, wenn sie Hausgeburten nachwiesen.
Schwangere melden sich immer früher bei Hebammen
Bundesweit hat die Corona dazu beigetragen, dass im ersten Pandemiejahr 14 Prozent mehr Kinder außerhalb einer Klinik zur Welt gekommen sind als im Jahr zuvor. Regional können Ullmann und Dominguez diesen Trend nicht bestätigen. Die Schwangeren, die sie in beiden vergangenen Jahren bei ihren Hausgeburten begleiteten, hätten ihre Entscheidung nicht vom Pandemie-Geschehen abhängig gemacht.
Doch auch zu ihnen fänden immer mehr Schwangere den Weg, nicht zuletzt durch die Einrichtung ihrer neuen Webseite www.hebamme-hegau.de. Grundsätzlich würden sich die Frauen auch immer früher, oftmals schon sofort nach einem positiven Schwangerschaftstest, bei ihnen melden, was ihnen die Planung leichter mache. Auffällig sei, dass sie seit fünf Jahren vermehrt Anfragen von Erstgebärenden erhalten würden. Ihr Fazit: „Frauen sind heute einfach selbstbestimmter, haben ein größeres Körperbewusstsein und das Vertrauen, dass sie gebären können.“