Familie Kuitert feiert jeden Monat einen ganz besonderen Geburtstag. Denn am 25. August 2021 kam Mireille zur Welt – viel zu früh mit 272 Gramm und einer Größe von nur 23 Zentimetern. Das Baby wog kaum mehr als eine Packung Butter – und kämpfte sich dennoch ins Leben. „Die kleine Mireille ist in der 15-jährigen Geschichte des Singener Perinatalzentrums das bislang kleinste versorgte Frühchen und gehört zu den kleinsten Frühgeborenen europaweit, die überlebt haben“, wie das Hegau-Bodensee-Klinikum mitteilt.

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Dort verbrachte Mireille die ersten 23 Wochen ihres Lebens. „Besonders die ersten zwei Wochen waren nicht so schön, das war auf Leben und Tod“, sagt Peter Kuitert, während er das Köpfchen seiner Tochter streichelt. Seit wenigen Tagen ist sie endlich zuhause. Noch unterstützen ein Sauerstoffgerät und eine Magensonde den schweren Start ins Leben. „Anfangs hatte ich Angst, sie zu halten. Nicht dass sie kaputt geht. Denn sie sah aus wie ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist“, sagt Mutter Analyn.

Maschinen halfen dem extremen Frühchen beim Start ins Leben.
Maschinen halfen dem extremen Frühchen beim Start ins Leben. | Bild: Peter Kuitert

Sie ahnte während der Schwangerschaft nicht, dass etwas mit ihrem Baby nicht stimmen könnte. Mireille habe sich munter in ihrem Bauch bewegt – auch an dem Tag, an dem sie erstmals zur Frauenärztin ging. „Es war eine ungeplante und unbeobachtete Schwangerschaft“, sagt Peter Kuitert, der mit seiner Frau eine Fernbeziehung führt. Eigentlich wollte sie auf den Philippinen entbinden, wo sie mit ihren zwei älteren Kinder lebt.

Viel Politik-Wirr-Warr vor der Geburt

Deshalb sei sie während ihres längeren Urlaubs in Deutschland anfangs nicht zum Arzt gegangen. Doch Rückflüge in die Heimat hätten sich immer wieder verzögert. Also ging das Paar doch in Deutschland zu einer Ärztin und die sei sofort alarmiert gewesen: Da stimme etwas nicht, es fehle Fruchtwasser und das Kind werde nicht richtig versorgt. Eine Woche später wurde Mireille per Kaiserschnitt geholt. Dabei war ihr Geburtstermin eigentlich für den 8. Dezember errechnet.

Weil Mireille so winzig war, passten anfangs nicht einmal Nano-Windeln.
Weil Mireille so winzig war, passten anfangs nicht einmal Nano-Windeln. | Bild: Peter Kuitert

„Kleine Kämpferin“ nennt Analyn ihre Tochter. Sie wird die nächsten Wochen und Monate weiter kämpfen müssen. Denn es stehen noch einige Arzttermine an: In München geht es zum Beispiel ums Herz, in Konstanz um die Augen. Wenn Mireille im Vierstunden-Takt ihre Milch bekommt, müssen die Eltern besonders aufpassen. Während Peter Kuitert vorsichtig die Flüssigkeit in einen Schlauch gibt, beobachtet seine Frau Analyn jede Regung. Denn die Kleine tut sich schwer damit, gleichzeitig zu trinken und zu atmen – selbst wenn das Trinken per Magensonde geschieht. „Ich traue den Maschinen nicht ganz, deshalb schaue ich ständig nach ihr“, sagt die Mutter. „Die ersten zwei Nächte haben wir gar nicht geschlafen, weil ständig Alarm war.“

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Die Eltern orientieren sich an der Gesichtsfarbe ihres Kindes: Sobald die sich ändert, ist Vorsicht geboten. Im Krankenhaus hätten sie ein Reanimations-Training absolviert, entsprechende Unterlagen sind an den Kühlschrank geheftet. „Hoffen wir mal, dass wird das nicht brauchen werden“, sagt Peter Kuitert. Unter anderem eine einwöchige Übergangszeit half dabei, sich an das tägliche Miteinander zuhause zu gewöhnen. Die Mutter durfte im Klinikum übernachten und war erstmals 24 Stunden pro Tag bei ihrer Tochter. „In dieser Woche habe ich gemerkt, dass ich es alleine schaffen kann“, sagt sie. In dieser Woche habe die Kleine ihre Eltern erstmals auch längere Zeit ohne Gesichtsmaske erlebt.

Die erste Kuscheleinheit mit Mama gab es erst im August

Für die Eltern waren die vergangenen Wochen eine große Herausforderung. „Ich bin jeden Tag mit dem Zug ins Krankenhaus gefahren“, erinnert sich Analyn. Sie spricht kein Deutsch und verständigte sich mit Ärzten und Klinikmitarbeitern auf Englisch. Manchmal half dabei eine Übersetzungs-App auf dem Smartphone. Ihr Mann kam meist nach der Arbeit dazu. „Anfangs konnten wir kommen, wann wir wollten – mit Test natürlich“, sagt Peter Kuitert.

Mireille Kuitert ist ein kleines Wunder, denn sie kam mit nur 272 Gramm im Singener Hegau-Bodensee-Klinikum zur Welt. Die Eltern haben ...
Mireille Kuitert ist ein kleines Wunder, denn sie kam mit nur 272 Gramm im Singener Hegau-Bodensee-Klinikum zur Welt. Die Eltern haben ihre ersten Monate dokumentiert. | Bild: Peter Kuitert

In einem kleinen rosa Büchlein hat das Klinikteam die Fortschritte der ersten Monate festgehalten: „Du warst so winzig und zart, so zerbrechlich und trotzdem so kräftig, dass du schimpfen konntest“, steht da zum Beispiel zur Geburt. Die erste Kuscheleinheit mit der Mama gab es am 31. August, das erste Bad zwei Monate später und das erste Fläschchen am 5. November. Meilensteine waren auch am Gewicht festzumachen: Am 16. November wog Mireille endlich ein Kilogramm. Es sind viele kleine Schritte in Richtung eines möglichst normalen Lebens.

Viele Helfer helfen der kleinen Familie

Unterstützt werden die Eltern vom Verein „Der Bunte Kreis“, der sich um familienorientierte Nachsorge für chronisch kranke Kinder, Jugendliche und ihre Familien bemüht. Regelmäßig komme ein Pflegedienst vorbei.

Die erste Kuscheleinheit zwischen Mama Analyn Kuitert und der kleinen Mireille.
Die erste Kuscheleinheit zwischen Mama Analyn Kuitert und der kleinen Mireille. | Bild: Peter Kuitert

Auch die Familien helfen: „Ich glaube, die ganzen Philippinen haben gebetet“, sagt Peter Kuitert mit einem Lachen. Und sein Arbeitgeber in Singen ermögliche ihm, viel Zeit mit der Tochter zu verbringen, bis sie stabil sei. „Wir werden sehen, was kommt, und müssen uns überraschen lassen“, sagt der Vater über die Zukunft. Überraschungen seien sie nach der überraschend frühen Geburt ihrer Tochter gewohnt.

„Ein so kleines Kind zu versorgen, ist eine extreme Herausforderung“

Andreas Trotter ist Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Hegau-Bodensee-Klinikum in Singen und lehrt an der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg.

Wie viele Kinder kommen pro Jahr im Singener Klinikum zur Welt? Wie viele davon zu früh?

In Singen sind im vergangenen Jahr 1635 Kinder zur Welt gekommen. In Deutschland liegt die Frühgeburtenrate bei circa 10 Prozent. Die Rate an Frühgeburten in Singen liegt bei circa 20 Prozent, das erklärt sich aus der Konzentrierung von Risikogeburten aus der Region am Standort hier. Singen ist ein ausgewiesenes Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe.

Ab wann gilt ein Kind als Frühchen?

Per Definition sind alle Kinder, die vor vollendeten 37 Schwangerschaftswochen auf die Welt kommen, Frühgeborene. Sehr kleine Frühgeborene sind Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm, davon kamen 2021 in Singen 45 auf die Welt. Außerdem haben wir 2021 18 extrem kleine Frühgeborene unter 1000 Gramm betreut.

Gibt es Risikofaktoren, die zu einer frühen Geburt führen können?

Schwangerschaftserkrankungen wie Diabetes oder Gestose und Fehlbildungen der Gebärmutter oder Rauchen können zu einer Frühgeburt führen. Oft genug findet sich auch keine fassbare Ursache.

Was ist bei Frühchen zu beachten?

Je früher ein Kind zur Welt kommt, umso unreifer sind auch seine Organe. Dies zeigt sich zum Beispiel an einer eingeschränkten Lungenfunktion, auch der Darm ist noch unreif und die Ernährung mit Milch muss schrittweise eingeführt werden.

Bedeuten extreme Frühchen auch eine extreme Herausforderung?

Die Lebensfähigkeit beginnt ab dem ersten Tag der 23. Schwangerschaftswoche. Davor gilt ein Frühgeborenes nicht als lebendfähig, weil die Lungen noch so unreif sind. Ein sehr kleines Kind wie Mireille muss mit Gefäßkathetern versorgt werden, um es zu ernähren. Diese sind heutzutage bereits dünner als 1 Millimeter – eine technische Meisterleistung.

Wann darf ein Frühchen nach Hause?

Es gibt fünf Kriterien, die erfüllt sein müssen: 1. Die Vitalwerte wie Herzfrequenz und Atmung müssen stabil sein. 2. Das Kind muss stetig zunehmen. 3. Es trinkt seine Mahlzeiten und braucht keine Magensonde mehr. 4. Es braucht kein Wärmebett oder einen Brutkasten mehr, um die Körpertemperatur stabil zu halten und wichtig: 5. Die Eltern müssen sicher genug im Umgang mit dem Kind sein. Bei Bedarf werden die Eltern beim Übergang betreut.

Wie lange bleibt ein Frühchen durchschnittlich im Klinikum?

Der eigentliche Geburtstermin ist eine erste Orientierung, wann es nach Hause gehen kann. Oft gelingt es aber, die Kinder drei bis vier Wochen früher nach Hause zu lassen. Mireille war da ein Sonderfall.

Haben Frühchen langfristige Folgen?

Das ist schwer vorherzusagen. Durchschnittlich haben Frühgeborene sicher mehr Förderbedarf in den ersten Jahren. Dieser individuell zu bestimmende Bedarf wird durch die Vorstellung im Sozialpädiatrischen Zentrum in Konstanz untersucht und in die Wege geleitet. Wir kennen viele Frühgeborene, die später ganz normal sind.

Wie war es für das Team des Klinikums, Mireille zu betreuen?

Mit 272 Gramm ist Mireille eines der kleinsten Frühgeborenen europaweit, das überlebt hat. Kinder mit 400 Gramm aufwärts kommen schon häufiger bei uns vor. Ein so kleines Kind zu versorgen, ist eine extreme Herausforderung für das gesamte Team an speziell qualifizierten Pflegekräften und Ärzten. Dazu gehört auch die kompetente Einschätzung, wie lange das Kind im Mutterleib bleiben kann. Die enge Zusammenarbeit zwischen Geburtshilfe und Neonatologie ist es, was ein Perinatalzentrum ausmacht, das wir hier in Singen nun bereits seit 15 Jahren vorhalten.