„Ich hole mal die Unterlagen.“ Jürgen Klöckler, Stadtarchivar von Konstanz, geht an den Aktenschrank. „Mein Ordner beginnt im Juli 2017.“ Damals erhielt er vom Liegenschaftsamt eine Liste sämtlicher Straßennamen der Stadt und der Ortsteile. Um sie einer Prüfung zu unterziehen. „Und dann begann ein langwieriger Destillationsprozess.“
Er sollte die Namen herausfiltern, die historisch bedenklich sind. Klöckler ging sehr gründlich vor: Für den früheren Bürgermeister von Litzelstetten, Franz Moser, nahm er zum Beispiel Einblick in dessen Entnazifizierungsakte in Freiburg. Gegen ihn lag nichts vor. Bei anderen war das nicht so. Und die kamen auf eine nächste Liste.
Er blättert in der Akte weiter: Im Juli 2021 gab es dazu eine Bürgeranhörung, auf der die Vorschläge diskutiert wurden, bei denen der Historiker eine Umbenennung nahelegte. Sechs Personen blieben letztlich übrig, über die Klöckler Kurzgutachten schrieb und wiederum dem Gemeinderat vorlegte.
Nicht ohne auch gleich neue Vorschläge zu unterbreiten, mit den die strittigen Personen ersetzt werden könnten. Paul von Hindenburg, den Namen kennen noch viele, aber wer ist Matthias Erzberger? Der Erstgenannte wird im Sommer 2025 seinen Straßennamensschild in Konstanz verlieren und durch den Zweitgenannten ersetzt werden. Die Hindenburgstraße wird zur Matthias-Erzberger-Straße.

Sechs Monate lang sollen zwei Straßenschilder hängen
Nele Schmid ist Studentin, seit gut einem Jahr in Konstanz, und wohnt im Internationalen Studierendenheim in der Hindenburgstraße. Und wurde überrascht von dem Brief der Stadt, der Ende November in alle Haushalte flatterte. Sie hat von der nun schon Jahre andauernden Diskussion um die Straßen nichts mitbekommen und hat sich erst einmal über den Aufwand aufgeregt, der damit für sie verbunden sein wird.
„Ich habe gerade erst einen neuen Pass bekommen.“ Für den braucht sie dann bald wieder einen neuen Adressen-Aufkleber. „Und mein Mietvertrag endet im August.“ Im Juli soll aber die Umbenennung durchgeführt werden. Also für zwei Monate noch mal aufs Amt! Ob das denn nötig sei?

Elena Oliveira, Pressereferentin der Stadt, bestätigt, dass das die Themen sind, die die Bürger beschäftigen: Ab wann kann man die neuen Straßennamen benutzen? Wann soll man Dritte informieren? Ab wann kann der Ausweis geändert werden? „Bislang haben wir dazu 15 Anfragen erhalten.“ Es werde, so fährt sie fort, seitens der Stadt aber noch ein weiteres Schreiben geben, das darauf Antworten gibt. Zudem werden in einer Übergangsfrist von sechs Monaten jeweils beide Namensschilder hängen bleiben.
Bei Hindenburg hat Nele Schmid zumindest gewusst, dass er im Zusammenhang mit Hitlers Machtergreifung steht, während eine Mitbewohnerin auch das erst mal googeln musste. „Erzberger war aber uns allen kein Begriff.“ Ein Geschichtsstudent aus dem Freundeskreis klärte sie über den Zentrumspolitiker auf, der 1903 als jüngster Abgeordneter (mit 28) in den Reichstag gewählt wurde, im November 1918 als Staatssekretär den Waffenstillstand mit Frankreich, der einer Kapitulation gleichkam, unterzeichnete, 1919 Reichsfinanzminister wurde, bevor man ihn 1921 ermordete.
„Ein aufrichtiger Mann“, wie Klöckler anmerkt. „Aber der einzige regionale Bezug bei ihm ist der, dass ein Radolfzeller Freund von ihm bei der Ermordung anwesend war.“ Vor allem, dass mit ihm das Ende des Ersten Weltkriegs verknüpft ist, hat sich Nele gemerkt. So hat die Umbenennung auch in ihrer WG zumindest zu einer kleinen Geschichtsstunde geführt. Aber der Ärger über den zusätzlichen Verwaltungsaufwand ist für sie größer als dieser Gewinn.
Stadtarchivar hofft, dass Ruhe in die Debatte einkehrt
Auch weitere der neu ausgewählten Persönlichkeiten sind weiten Stadtkreisen nicht allzu bekannt. Emma Herwegh zum Beispiel. Dass sie an der 1848er-Revolution beteiligt war, als emanzipierte, aber „burschikose“ Frau auftrat, die wie der Teufel geritten, mit Pistolen geschossen und nachts im Meer gebadet haben soll, das wissen (noch) nicht viele. Jürgen Klöcklers Kommentar zu ihr: „Eine Frau, weit ihrer Zeit voraus.“
Schon eher geläufig ist der Name Josef Picard, hat er doch in Konstanz gelebt, sogar in der Straße, die nun nach ihm benannt wird. Das ergibt Sinn. Ein Stolperstein erinnert vor der Hausnummer 8 an den jüdischen Architekten, dessen Büro zum Beispiel an der Marktstätte stadtprägende Bauten errichtete, der aber schon im Jahr 1933 mit einem Berufsverbot belegt wurde und deshalb 1940 schließlich in die USA floh.
Dass er einen „braunen Bischof“ ablöst – damit müssten die meisten einverstanden sein. Aber eben auch nicht alle. In Klöcklers Akte befinden sich auch Kopien der regen Leserdiskussion, die zum Thema Umbenennung im SÜDKURIER stattfand. Schließlich wurde zwei der Betroffenen – Franz Knapp und Otto Raggenbass – auch die Ehrenbürgerwürde aberkannt.
Jürgen Klöckler erinnert sich auch daran, dass Erzberger und Picard kurzfristig noch durch einen SPD-Antrag auf die Liste kamen. „Ich hatte nur zwei Stunden Zeit, um für die Sitzung etwas zu den beiden zu recherchieren.“ Letztlich haben auch sie sich durchgesetzt. Der Stadtarchivar hofft, dass in das Thema Ruhe nun einkehrt und das arbeitsintensive Verfahren nach acht Jahren endlich seinen Abschluss findet. Und er seine Akte schließen kann.