26. April 1945, Konstanz, Ortsteil Egg: Ein kleiner Junge – damals gerade einmal vier Jahre alt – läuft mitten auf der Straße. Ihm rollen Panzer der französischen Besatzungstruppen entgehen. Der kleine Hans trägt einen Stock mit sich, an dem ein Stück weißes Leinentuch befestigt ist. Dann beginnt der Bub, seine Fahne zu schwenken. Für Konstanz endet an diesem Tag der Zweite Weltkrieg.

Heute, genau 80 Jahre später, muss Hans Vogel lachen, wenn er an jenen schicksalshaften Moment zurückdenkt. „Die Panzerkolonne kam aus Richtung Litzelstetten und Mainau“, erinnert sich der heute 84-Jährige im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

Einer der vordersten Panzer habe daraufhin einen Warnschuss – ohne Sprengladung – auf das Gasthaus Mainaublick abgegeben. Da wussten alle: Die Franzosen sind da. „Das Dorf hat Angst gehabt, weil bis einen Tag vorher noch deutsches Militär vor Ort war“, erinnert sich der heute 84-Jährige.

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Genauer gesagt habe es in Egg ein Wehrmachtausbildungslager mit Anhängern der Gebirgsjäger und der Marine gegeben, so Vogel. Doch die Wehrmacht hatte das Lager am Vortag bereits geräumt und die verbliebenen Soldaten waren mit der Fähre von Staad Richtung Meersburg geflohen.

Fahne wird an Vaters Gehstock befestigt

„Mein Vater ging aufgrund von Hüftproblemen am Stock“, erzählt der gebürtige Egger. Nachdem klar war, dass die Alliierten nicht mehr weit entfernt waren, wurde die Gehhilfe zweckentfremdet. Vogel erzählt: „An diesem Stock hat er dann das weiße Leintuch festgemacht. Dann hat er mir den circa einen Meter langen Stock gegeben und gesagt: ‚So, jetzt läufst du mitten auf der Straße den Panzern entgegen.‘“ Gesagt, getan, trat der Vierjährige auf der alten Mainaustraße tapfer der Panzerkolonne entgegen.

Die Panzer wurden langsamer, die Besatzung der hinteren Gefährte habe weiterhin Ausschau nach deutschen Streitkräften gehalten. Schließlich habe die Kolonne gestoppt – und dann öffnete sich die Luke von einem der vorderen Panzer. „Ein Schwarzer hat da seinen Kopf herausgestreckt“, berichtet Hans Vogel. „Er gab mir eine große orangefarbene Frucht, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Das war für mich das Höchste.“ Vermutlich hat es sich um eine Orange gehandelt, doch sicher ist sich Hans Vogel dabei nicht mehr.

„Er gab mir eine große orangefarbene Frucht, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Das war für mich das Höchste“, erinnert sich Hans Vogel.
„Er gab mir eine große orangefarbene Frucht, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Das war für mich das Höchste“, erinnert sich Hans Vogel. | Bild: Timm Lechler

Die meisten verängstigten Bewohner des Egger Ortsteils hätten sich zu Hause versteckt, das Dorf sei wie ausgestorben gewesen. Doch dann sei sein Vater gekommen. Dessen Glück – und wohl auch Glück für alle Egger: Er sprach Französisch, da er im Ersten Weltkrieg dort stationiert gewesen sei. „Er hat dann mit dem französischen Kommandanten verhandelt“, sagt Hans Vogel. „Er versicherte ihm, dass sich kein einziger Wehrmachtsangehöriger mehr im Dorf befinde.“

Kritisch sei die Situation dennoch gewesen, doch sein Vater habe dem Kommandanten gesagt, dass es sich bei den Eggern nur um Bauern und Fischer sowie um „rechtschaffene Leute“ handele. „Der Erfolg dieses Gesprächs war, dass ganz Egg von Repressalien verschont blieb“, so Hans Vogel. „Es gab keine Hausdurchsuchungen, noch wurden Wohnungen requiriert.“

(Archivbild) Eine Parade der Franzosen auf der Alten Rheinbrücke vor ungefähr 80 Jahren. Ab dem 26. April 1945 besetzten die alliierten ...
(Archivbild) Eine Parade der Franzosen auf der Alten Rheinbrücke vor ungefähr 80 Jahren. Ab dem 26. April 1945 besetzten die alliierten Streitkräfte die Stadt Konstanz. | Bild: Stadtarchiv Konstanz/SK-Archiv

Wie Hans Vogel einige Zeit später erfuhr, hatten zwei Knaben deshalb Glück: Die jungen Soldaten seien von einem Egger im ehemaligen Torkel unter Stroh versteckt worden. Sie hätten sich wohl mehr oder weniger unfreiwillig im Dienst der Wehrmacht befunden, ihr Schicksal bei Entdeckung durch die französischen Streitkräfte: ungewiss. In der folgenden Nacht hätten sie sich unentdeckt mit einem Ruderboot von Egg aus Richtung Uhldingen auf der anderen Seeseite aufgemacht. Und waren nicht wieder gesehen, nur das leere Boot blieb zurück.

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Über den Einmarsch bei Egg ist wenig bekannt

„Es ist friedlich geblieben hier, am 26. April 1945“, so Hans Vogel, der heute in Litzelstetten lebt. Er selbst wundert sich, warum über den französischen Einmarsch über Egg nach Konstanz vor 80 Jahren so wenig bekannt ist. Die meisten Streitkräfte seien aus Richtung Radolfzell in die Konzilstadt gekommen, das sei gut dokumentiert.

Deshalb habe er sich kürzlich einmal hingesetzt und alles aufgeschrieben, an das er sich erinnern könne. Und dann mit dem SÜDKURIER darüber gesprochen. „Das ist, was ich erlebt habe“, sagt Vogel. Fotos aus der Zeit oder gar von jenem schicksalshaften Moment mit der weißen Fahne gebe es leider keine.

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In der Folgezeit nach dem Einmarsch der französischen Streitkräfte, die teilweise aus nordafrikanischen Soldaten aus den dortigen französischen Protektoraten bestand, habe er auch mit den Marokkanern Spaß gehabt, erinnert er sich noch gut. „Die Reitertruppe der Marokkaner hatte in unserem Obstgarten ihre Zelte für sich und die Pferde aufgestellt. Und wir kleine Buben grillten mit den Männern Lamm auf dem Spieß“, sagt Vogel.

Und er hatte noch mehr Glück: Alle seine vier Stiefbrüder hatten den Zweiten Weltkrieg überlebt und kamen wieder nach Hause. So endete der Krieg im Konstanzer Ortsteil Egg vermutlich unter anderem deshalb friedlich, weil ein kleiner Junge sich ein Herz fasste und eine weiße Fahne schwenkte.