Konstanz – Die Treppen hinab in den urigen Weinkeller von Andreas Fritz verführen in eine andere Welt. Hier weht ein Hauch von Andalusien oder Apulien: kühlende Kalksteinwände, opake Weine, flackerndes Kerzenlicht. Die Luft ist geschwängert von einem rauchig-würzigen Bukett. Als würde man ein riesiges Eichenfass betreten. Hätte Bacchus in Konstanz Rebensaft trinken wollen, er wäre hier eingekehrt. Seit 1422 wird im Keller Wein ausgeschenkt. Seit dem Jahr 1640 ist das Haus im Besitz der Familie Fritz. In diesen historischen Mauern schlägt das Herz der Niederburg. Wer hierher kommt, weiß einen guten Tropfen zu schätzen. Und hat etwas zu sagen. Beim Fritz wird getratscht, gschumpfe, geplaudert, gelästert. Hier wird die Konstanzer Welt erklärt, manchmal verklärt, und, wenn es denn sein muss, auch mal Süßholz geraspelt. Konstanz hat viele Gesichter. Nirgendwo ist es so authentisch wie unten beim Fritz, in der indigenen Welt der autochthonen Bevölkerung.
Freitagvormittag. Andreas Fritz, der Hausherr, steht in der Theke, eine Flasche Bürgertröpfle in Händen. Hinten sitzen fünf ältere Herren. Stammtisch. Wer Zeit hat, kommt beim Fritz mit Weggefährten bei Spätburgunder oder Primitivo zusammen. Die Themen gehen nie aus. Die gute, alte Zeit gehört dazu, aber nicht nur. Gott bewahre. „Dafür sind wir noch zu jung“, sagt Hans-Joachim Pfeffer, der im Sommer 85 wird. Die Freunde lachen. Wird Wein im Volksmund nicht als Sorgenbrecher bezeichnet? Und wer weniger Sorgen hat, der lebt länger. Und besser.
Das Nesthäkchen der illustren Runde ist Peter Reiher, der 77-Jährige Inhaber des gleichnamigen Laufsportladens in der Wollmatinger Straße. Noch heute steht er so oft wie möglich hinter dem Tresen und berät seine Kunden. Inhaber geführtes Geschäft. Eine aussterbende Spezies. „Heute gibt es fast nur noch Discounter und Ketten“, sagt er. „Das ist nicht meine Welt. Aber wenn es die Menschen heute so wollen, dürfen wir Alte es nicht kritisieren.“ Wichtig sei die Jugend, „wir sind nur noch die Beilage“. Die jedoch sollte, dieser Einwand sei erlaubt, ebenso schmackhaft sein wie die Hauptspeise. Was nutzt das saftigste Filet, wenn die Spätzle ranzig sind? Zustimmendes Nicken. „Konstanz macht zu wenig für die jungen Generationen“, sagt Peter Reiher. Während ein Seniorenrat existiert, ist die Suche nach einem Juniorenrat vergeblich. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Der Methusalem des Stammtisches arbeitet im selben Genre wie Reiher. Robert Kolb ist 92 Jahre alt und Seniorchef von Sport Gruner am Bahnhofplatz. Sein Rat und seine Erfahrung sind gefragt im Familienunternehmen. Und auch darüber hinaus hat er Ansichten, die er gerne und dezidiert vertritt. Natürlich profitiere sein Geschäft von den Schweizern, sprudelt es aus ihm heraus, „doch wer in Konstanz tut das nicht? Handwerker, Gastronomen, Einzelhändler, Immobilienbesitzer, die Verwaltung selbst. Wir sollten nicht so tun, als wären die Schweizer ein Problem“. Hans-Joachim Pfeffer schränkt ein: „Schade ist nur, dass Konstanzer am Wochenende nicht mehr in die Innenstadt gehen.“ Es sei denn zum Fritz, in den Weinkeller.
Robert Kolb versteht nicht, wieso das Verkehrsproblem nicht gelöst wird. „Wieso wird der Übergang Klein Venedig nicht aufgemacht?“, fragt er in die Runde und erntet Zustimmung. „Das wär die Ideallösung.“ Das wurde zwar schon im Gemeinderat diskutiert, „doch was nutzen Diskussionen, wenn sie nicht zielführend sind und wir uns im Kreis drehen“? Und überhaupt, die Lokalpolitiker. Die Herren bestellen ein zweites Viertele, bevor Hans-Joachim Pfeffer ausholt. „Ein ehemaliger Gemeinderat hat mir gesagt: So schwach wie aktuell war der Rat noch nie.“ Er selbst könne das nicht beurteilen, „doch wenn ich mir eben den Verkehr anschaue und sehe, dass sich nichts tut, könnte man schon darüber nachdenken“. Die Spitze der Verwaltung bekommt ebenfalls ihr Fett weg von den Altvorderen. „Unser OB möchte ja gerne die 100 000-Einwohner-Marke reißen“, sagt Architekt Burghard von Sondern, der mit seinen 84 Jahren nach wie vor freiberuflich arbeitet. „Damit würde sich ja auch sein persönlicher Geldbeutel vergrößern.“ Je mehr Einwohner, desto höher die Besoldung. Brennende Themen wie sozialer Wohnungsbau, schließende Läden oder zunehmende Leerstände kommen laut Burghard von Sondern deutlich zu kurz. „OB und viele Gemeinderäte arbeiten ohne Weitsicht“, sagt er und erwähnt, einmal richtig in Fahrt gekommen, das Asisi-Panorama am Seerhein. „Was für eine beispiellose Idiotie, dieses Projekt abzulehnen“, erzählt er. „Das hätte die Stadt nichts gekostet, sondern nur Vorteile gebracht. Aber nein, das lehnen die Damen und Herren ab bis der Künstler sagt: Ach, leckt mich doch! Unfassbar.“
Andreas Fritz bringt frische Brezeln an den Tisch. „Ich kenne die Herren schon ewig“, sagt er. Am längsten ist er mit Hans-Joachim Pfeffer bekannt. Der ist in Konstanz ein bunter Hund. Man kennt ihn, den Jockele, man mag ihn. Dazu hat der 84-Jährige nicht wenig beigetragen. Über Jahrzehnte war er Teil des öffentlichen Lebens in der Stadt, die er so sehr liebt. Ehrenamtlicher Präsident war er eine gefühlte Ewigkeit: beim FC Konstanz und bei der Narrengesellschaft Seehasen. Wie oft stand er auf der windigen Tribüne des Bodenseestadions und hat mit seinem Herzensverein gezittert – nicht berücksichtigt die unzähligen Stunden, als er sich um organisatorische oder strategische Belange kümmerte? „Der FC“, sagt er, „der FC war Bestandteil meines Lebens.“ Heute nicht mehr. Nicht, dass er das nicht wollte. Doch offensichtlich will man ihn, wie so viele Haudegen vergangener Tage, nicht mehr. 2004, als der FC sein 100-jähriges Jubiläum feierte, wurde er, der Jockele, nicht eingeladen. Das hat Wunden gerissen, die bis heute nicht verheilt sind. „Das sagt viel über den Verein“, hatte er damals gesagt und vielleicht die eine oder andere Träne der Enttäuschung verdrückt.
Paul Seeberger kennt sich beim Thema Fußball aus. Sohn Jürgen ist Profi-Trainer, hat Winterthur, Schaffhausen, Alemannia Aachen, Darmstadt 98 oder die Amateure des VfB Stuttgart verantwortlich betreut. „Unsere Fußballer sollten sich ein Beispiel an den Handballern nehmen“, sagt der 80-Jährige. „Die arbeiten zielstrebig und haben sich super aufgestellt.“ Angesichts des Trauerspiels rund um die Kicker würde er sogar vorschlagen, „das Bodenseestadion abzureißen. Das braucht keiner mehr. Wieso hat die Stadt das Bodenseeforum gekauft, wenn wir am Hörnle einen so tollen Platz für ein tolles Kongresshaus mit vielen Parkmöglichkeiten gehabt hätten?“ Das Stadion sei heute nur noch ein teures Riesengrab.
Gut zwei Stunden und das eine oder anderen Viertele später verlassen die Herren bestens gelaunt ihren Fritz. Mittagsschlaf steht auf dem Programm. „Wir sind ja nicht mehr die Jüngsten“, sagt Hans-Joachim Pfeffer. Die Freunde lachen. Und verschwinden in den engen Gassen der Niederburg. Bis zum nächsten Stammtisch. Beim Fritz.
Familienbetrieb Fritz
Herzstück der Weinhandlung Franz Fritz ist der Weinkeller im Haus zur Mugge, erstmals urkundlich erwähnt 1422. Gegründet wurde die Weinkellerei durch Franz Fritz 1922. Jahrzehnte wurden Weinfässer aus Eichenholz selbst hergestellt. Mit dem Handwagen wurden sie zu den Wirtsleuten gebracht. 1964 übernahmen die Söhne Hermann und Erwin Fritz. Sie verlegten den Geschäftsschwerpunkt auf den Einzel- und Großhandel mit Weinen und trennten sich von der Küferei. Heute noch wird in der Konstanzer Weinszene vom Küfer-Fritz gesprochen. Seit 1988 führt Winzer und Weinbautechniker Andreas Fritz den Familienbetrieb. (sk)