Diese Lüge der Nationalsozialisten hat Rosemarie Banholzer 76 Jahre lang begleitet. Seit kurzem hat sie Gewissheit. Die Lüge: Ihre Mutter sei an einer Thrombose mit anschließender Lungenembolie gestorben. Die Wahrheit: Ihre Mutter ist am 2. April 1941 ermordet worden. In einer Tötungsanstalt, in der Gaskammer, weil sie psychisch krank gewesen sein soll. Keine Beerdigung, kein Grab. Nach all dieser Zeit "ist das für mich eine Gelegenheit, Abschied zu nehmen", sagt Rosemarie Banholzer. Für ihr Mutter Berta Amann wird am 9. Juli ein Stolperstein verlegt.
Damit sich Geschichte nicht wiederholt
Es ist eine tief bewegende Geschichte, über die Rosemarie Banholzer erst nicht öffentlich sprechen wollte. Die 93-Jährige entschied sich dann doch, dem SÜDKURIER einen Einblick über ihr ganz persönliches Schicksal zu geben. Warum? Weil sie noch darüber sprechen kann, weil sie es ein Stück weit als auch ihre Verantwortung sieht, insbesondere die jungen Generationen über die unfassbaren Taten der Nationalsozialisten aufzuklären. Damit sich die Geschichte, damit sich ihr Erlebtes nicht wiederholt.
Ein Vorfall auf der Mainau
Rosemarie Banholzer war acht Jahre alt, ihre Familie war von der Konstanzer Tägermoosstraße 23 nach Allensbach gezogen. Den Lehrer mussten die Grundschüler mit "Heil Hitler" grüßen. Zu dieser Zeit war "meine Mutter immer etwas deprimiert", erinnert sich die weithin bekannte Mundartdichterin. Es kam der Tag, als Berta Amann mit Rosemarie im Bus auf die Insel Mainau fuhr. Dort angekommen, zog die Mutter ihr Kind ins Wasser. Bekleidet. Rosemarie Banholzer erinnert sich, wie sie schrie, wie Passanten zu Hilfe eilten. Das Rote Kreuz kam und brachte die Mutter in die "Heilanstalt Reichenau". Sie sollte nicht wieder nach Hause zurückkehren. Tag der Einweisung: 15. Juli 1934.
Tochter eines Uhrenfabrikanten
Berta Amann entstammte aus der Schwarzwälder Uhrenfabrikation ihres Vaters Johann Winterhalder. Nach der Realschule in Neustadt mit Bestnoten zog sie zur Ausbildung nach Ingenbohl am Vierwaldstädter See. Die Industriekauffrau wechselte nach Leibstadt im Kanton Aargau, bevor ihr Vater sie nach Konstanz schickte, um dort einen Uhrenvertrieb aufzubauen. Sie lernte den Buchhalter Otto Amann kennen, sie heirateten 1924 in der Barockkirche Birnau und am 10. Februar 1925 kam Rosemarie zur Welt, wie Roland Didra zusammenfasst. Er hat für die Verlegung des Stolpersteins die Biografie Berta Amanns recherchiert.
Täglicher Besuch in der Anstalt
"Ich habe meine Mutter immer besucht", sagt Rosemarie Banholzer. Als Kind lebte sie bei ihrem Vater, einem AOK-Angestellten, und radelte jeden Tag in den Lindenbühl, um mit ihrer Mutter gemeinsam für die Schule zu lernen. "Ich habe von ihr lesen und schreiben gelernt. Meiner Erinnerung nach war sie vollkommen normal." Das sahen die Nationalsozialisten und ihre Erfüllungsgehilfen anders. Bereits einen Monat nach der Einweisung beantragte der stellvertretende Anstaltsleiter Kühne beim Erbgesundheitsgericht die "Unfruchtbarmachung" Berta Amanns. Grundlage: Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Begründung: die angebliche Erbkrankheit Schizophrenie. Vollzug: 6. Februar 1935 in der städtischen Frauenklinik. "Ich habe erst vor einem Jahr erfahren, dass sie zwangssterilisiert worden ist", sagt Rosemarie Banholzer.
Zwangssterilisation ein Jahr später
Dieser brutale Eingriff, der dauerhafte Verbleib Berta Amanns in der Reichenauer Anstalt, der Verlust von Familie und vor allem die Trennung von ihrer geliebten Tochter, recherchierte Roland Didra, hätten ihren Gesundheitszustand sicher wesentlich verschlimmert. Rosemarie Banholzer und ihr Vater zogen zurück nach Konstanz. Die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten war längst angelaufen. Vor der Reichenauer Anstalt fuhren die grauen Busse der gemeinnützigen Krankentransport GmbH vor. Sie deportierte 508 Patienten zur Ermordung nach Grafeneck. Berta Amann kam am 17. Dezember 1940 allerdings nach Wiesloch, am 2. April 1941 nach Hadamar in Hessen. Es sollte ihr letzter Tag werden. Auf der Todesnachricht an den Vater war das "Ableben" mit 15. April angegeben.
Vermutungen und keine Beweise
"Thrombose mit anschließender Embolie", eine der vielen Lügen, mit denen die Nationalsozialisten den Tod ihrer Opfer gegenüber Familienangehörigen angaben. Rosemarie Banholzer und ihr Vater mussten das, notgedrungen, so hinnehmen. Bei einer späteren Erbschaftsangelegenheit und beim Fund von Korrespondenz kam die Vermutung auf, dass es doch keine Thrombose gewesen sein könnte. Mutter "starb" in Hadamar, so viel stand irgendwann fest. Durch die Recherchen in Archiven für die Stolpersteinverlegung trat die Gewissheit zu Tage, vielmehr der Beweis, dass Berta Amann vergast worden ist. "Da ist mir das erst alles bewusst geworden." Eine Wiedergutmachung? Angehörige von Opfern konnten das nach dem Dritten Reich einfordern. Rosemarie Banholzer hat eine Ablehnung erhalten. Mit der Begründung, die Mutter sei doch an einer Thrombose gestorben. Nachweis: Die Todesnachricht aus Hadamar an Otto Amann. Unterschrieben von einem Dr. Moos mit "Heil Hitler".
15 neue Stolpersteine
- Verlegung: Für die Mutter von Rosemarie Banholzer, Berta Amann, wird am Montag, 9. Juli, um 14.30 Uhr zum Gedenken ein Stolperstein an der Tägermoosstraße 23, ihrem letzten frei gewählten Wohnort, verlegt. 14 weitere Quader werden für Opfer von Nationalsozialisten verlegt: 13.30 Uhr für Robert Ballast (politisch verfolgt), Rheingasse 15; 13.55 Uhr: Konrad Hanser, Rheingutstraße 10, politisch verfolgt; 14.10 Uhr: Hugo Hämmer, Rheingutstraße 13, Euthanasie-Opfer; 14.30 Uhr, Berta Amann, Tägermoosstraße 23; 14.50 Uhr: Melanie Picard, Hans Picard, Schützenstraße 16, Juden; 15.15 Uhr: Martha, Ernst, Kurt und Heinz Karl Thanhauser, Döbelestraße 4, Juden; 15.35 Uhr: Selma und Irene Fuchs, Döbelestraße 2, Jüdinnen; 15.55 Uhr: Siegfried und Albert Rosenfeld, Kreuzlinger Straße 5, Juden; 16.10 Uhr, Andreas Friedrich, Emmishofer Straße 4, politisch verfolgt. Die Steine verlegt Gunter Demnig, Initiator der Gedenkaktion.
- Rahmenprogramm: Am Abend des 9. Juli ist um 19.30 Uhr im Wolkensteinsaal des Kulturzentrums am Münster die offizielle Übergabe der Stolpersteine an die Stadt Konstanz. Im Anschluss spricht Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung Nationalsozialistischer Verbrechen, über „Hitlers letzte Helfer? – Aktuelle Ermittlungen zu nationalsozialistischen Verbrechen. (phz)