Frau Becker, Sie haben einen tollen Job, oder?
Ja. Ich müsste ihn nur endlich auch mal so wie vorgesehen ausüben können.
Die Intendantin des Konstanzer Theaters hat wegen Corona nichts zu tun?
Das ist so ungefähr der wortgleiche Zuruf, mit dem mich eine Nachbarin im Hausflur angesprochen hat. Und der Gedanke liegt ja auch nahe: Keine Vorstellungen, also gibt‘s nichts zu tun, weshalb den Leuten am Theater viel freie Zeit zur Verfügung stehen müsste. So ist es aber nicht.
Sondern?
Am Theater sind rund 120 Mitarbeiter fest angestellt, und die haben wie in anderen Branchen auch ihre ganz alltäglichen Sorgen und Nöte. Kurzarbeit, Homeoffice oder Proben mit nur geringer Aussicht auf Vorstellungen machen den Kollegen genauso zu schaffen wie Corona-Betroffenen in anderen Berufen. Da gibt es einen hohen Gesprächsbedarf. Und natürlich sitze ich (wenn wir denn proben können) sehr viel auf Proben, und man bespricht, was man gesehen hat, was erzählt wird, was aufgeht – und was vielleicht auch nicht. Und dann müssen wir ja ständig neue Pläne machen: Wohin schieben wir welche Premieren…
Die Intendantin betreibt also zurzeit nicht nur Theater, sondern auch viel Kommunikation?
Aber ja, es beansprucht weit mehr Zeit als früher. Und gleichzeitig steigt der Aufwand für die Planung. Schon im Dezember bin ich davon ausgegangen, dass aus den ursprünglich vorgesehenen Aufhebungen des Lockdowns im Januar nichts wird. Aber das hilft ja nicht unbedingt weiter. Man muss trotzdem damit rechnen, dass der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden kann und dann müssen wir vorbereitet sein.
Was läuft da in der Politik aus Ihrer Sicht falsch?
Generell gesehen nicht sehr viel. Aber die Kommunikation mit der Bevölkerung darf schon noch mehr sein. Wenn ich in der Politik wäre, hätte ich vermutlich schon früher und mit schärferen Vorgaben versucht, die Pandemie einzudämmen – ausgenommen die Schließung von Schulen und Kindergärten. Das ändert aber nichts am Alltag, und was das anbelangt, wäre mir eine längerfristige Strategie lieber. So wie‘s jetzt läuft, kommt fast jede Woche etwas Neues. Das sehen Sie am Beispiel der Familienproduktion „Wunschpunsch“: Da war die Premiere am 29. November geplant, dann hieß es Dezember – also haben wir den 6. Dezember geplant. Dann hieß es Januar – die Regieteams stehen ja nicht einfach nur parat, sondern andere Engagements folgen und dann sind da ja auch noch deren Familien. Und ich kann und möchte nicht sagen: „Du reist jetzt noch drei Mal an, arbeitest und bitte gratis!“ So geht das nicht!
Aber wo ist das Problem? Wenn die Einschränkungen verlängert werden, dann finden eben keine Vorstellung statt.
Tja, wenn es so einfach wäre. Aber wir müssen unser Programm ja auch ankündigen, da müssen zum Beispiel Drucktermine für die Werbung eingehalten werden und das alles kostet Geld. Wenn man dann das Jahresprogramm im Blick hat, stellt sich zum Beispiel das Problem der Aufführungskoordination. Uns gehen schlichtweg die Spieltage aus und da stellt sich unter anderem die Frage, wie man die geplanten Abonnements umsetzen kann.
Dann müssen Sie das Programm eben zusammenstreichen...
Das sagt sich so leicht. Aber man muss sich mal vorstellen, was das für die Schauspieler bedeutet – es handelt sich ja um ihren Beruf, ihre Arbeit. Das war dann eben umsonst. Unsere Regieteams sind Freiberufler, da geht es um ihre finanzielle Existenz. Auch bei den Theaterbesuchern ist der Frust nicht gering. Kultur ist Leben, da kann man sich ausmalen, was es bedeutet, wenn die Kultur über Monate am Boden liegt. Bei mir persönlich bricht dann außerdem die Schwäbin durch. Das Zusammenstreichen der Vorstellungen widerspricht meiner Einstellung eines sparsamen und nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen.
Was unternimmt die „Seelsorgerin“ Karin Becker gegen die um sich greifende Depression?
Ich versuche Mut zu machen und fröhlich zu bleiben. Im Übrigen nicht nur ich, das Team hält ungemein zusammen. Umgekehrt erfahren wir auch von außen viel Zuspruch. Als neue Intendantin kann ich sagen, dass wir in Konstanz die tollsten und geduldigsten Abonnenten haben, die man sich überhaupt vorstellen kann. Was diese Erfahrung anbelangt, kann ich Corona sogar noch etwas Positives abgewinnen.
Sie haben Ihre neue Aufgabe im Spätsommer 2020 übernommen. Haben Sie überhaupt schon mal eine Vorstellung im Konstanzer Theater gesehen?
Der Start mitten im Lockdown war schon einigermaßen bizarr. Aber ich kenne das Theater natürlich aus der Zeit davor. Ich haben mir im Vorfeld 33 Produktionen angeschaut und viele Eindrücke gewonnen. Und wir haben ja vor dem zweiten Lockdown vier tolle Produktionen herausbringen können.
Wie gehen Sie damit persönlich um?
Soll ich das wirklich sagen? Also gut: Einmal bin ich zum Beispiel mitten in der Nacht so gegen 2.30 Uhr aufgestanden und hab‘ die Fliesen im Bad geputzt. Man kommt einfach nicht zur Ruhe.
Man kann aber auch lesen...
Stimmt, das ist eine Alternative und ich bin gut versorgt. In den Regalen bei mir stehen ungefähr drei Meter über Tibet und ein Meter über den Iran. Überhaupt empfehle ich, dass man die Zeit nutzt, um mal nachzudenken. Vor allem denjenigen, die Corona nicht ernst nehmen oder die Dinge nicht mehr richtig einordnen können. Durch das Krisenmanagement bin ich inzwischen zur Fachfrau in Sachen Corona-Verordnungen geworden und da können einem schon mal die Haare zu Berge stehen. Aber deshalb muss man dennoch nicht das wirklich Wichtige aus den Augen verlieren – und das ist, dass wir möglichst alle gesund bleiben. Machen wir uns Gedanken: Was passiert gerade auf dieser Welt? Was machen wir mit dieser Welt? Wie gehen wir damit um? Wie gehen wir mit den Menschen um? Was lernen wir aus dieser Pandemie? Einfach so weiter machen? Bitte nicht!
Gibt es da etwas, was die Theaterintendantin Karin Becker als Lektüre empfiehlt?
Also was mich wirklich sehr beeindruckt ist ein Buch von Carsten Brosda mit dem Titel „Ausnahme / Zustand“. Der Autor ist Senator der Hamburger Behörde für Kultur und Medien und er skizziert in sehr dichter Form, welche Debatten er nach Corona für dringend erforderlich hält.
Eine Alternative zum Putzen in schlaflosen Nächten?
Definitiv!