Der 24. Februar 2022 wird inzwischen als Wendepunkt in der Geschichte Europas gesehen. Seit diesem Tag ist wieder Krieg auf dem Kontinent. Russland greift in der Nacht die Ukraine an. Die Auswirkungen des gewaltsamen Konflikts bekommen die Menschen auch am Bodensee zu spüren. Energiepreise stiegen in kaum gekannte Höhen, die Wirtschaft steht vor Herausforderungen und Millionen Menschen fliehen aus dem Kriegsgebiet. Was sagen Vertreter aus Wirtschaft und Politik sowie geflüchtete Ukrainerinnen nach 365 Tagen Krieg?

Norbert Reuter, Geschäftsführer der Stadtwerke

(Archivbild) Norbert Reuter, Geschäftsführer der Stadtwerke Konstanz, ist verhalten optimistisch, dass die Energiepreise aktuell wieder ...
(Archivbild) Norbert Reuter, Geschäftsführer der Stadtwerke Konstanz, ist verhalten optimistisch, dass die Energiepreise aktuell wieder sinken. | Bild: Hanser, Oliver | SK-Archiv

Der Chef der Stadtwerke schätzt die Entwicklung bei den Energiepreisen als hohe Belastung der Konstanzer ein. Bereits vor Beginn des Angriffskriegs seien ungewöhnliche Bewegungen bei den Energiepreisen zu beobachten gewesen. „Der Gaspreis ging hoch, obwohl der Winter mild war“, erinnert sich Reuter. „Wir dachten alle, dass dies mit der Fertigstellung der Pipeline Nordstream 2 zusammenhängt.“

Am 24. Februar 2022 war klar, dass der wahre Grund Putins Angriff auf die Ukraine war. Dieser hatte enorme Auswirkungen auf die Energiepreise. „Solche Preissteigerungen habe ich noch nie gesehen“, sagt er. Im Jahr 2022 sei der Preis für Gas zeitweise auf 300 Euro pro Megawattstunde gestiegen, dann langsam bis auf 150 Euro im Sommer zurückgegangen. „Zu den früheren 10 Euro pro Megawattstunde wird der Preis wohl nicht mehr zurückkehren.“

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Schwierig für die Stadtwerke sei, dass das Unternehmen die höheren Preise lange Zeit wegen der Vertragsbindung nicht an die Kunden weitergeben konnte. Derweil musste Strom und Gas bereits zu stark erhöhten Preisen eingekauft und der Verlust intern kompensiert werden. Erst im Januar 2023 der Energieversorger die Preise erhöht. Derzeit sinkt der Gaspreis, er liegt bei etwa 50 Euro pro Megawattstunde.

Claudius Marx, Geschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee

(Archivbild) Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, ist überzeugt, dass hiesige Unternehmen sehr flexibel auf ...
(Archivbild) Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, ist überzeugt, dass hiesige Unternehmen sehr flexibel auf die Entwicklungen der Krise reagiert hätten. | Bild: Scherrer, Aurelia | SK-Archiv

Dass der Ukraine-Krieg Einfluss auf die deutsche Wirtschaft nimmt, ist unbestritten. Man müsse jedoch zwischen primär und sekundär betroffenen Unternehmen unterscheiden, sagt Marx. In sehr große Schwierigkeiten gerieten Unternehmen, die direkt in der Ukraine oder Russland tätig seien. „In zweiter Linie betroffen waren alle Betriebe wegen der enorm gestiegenen Energiekosten.“

Gelernt hätten alle seit Beginn des Ukraine-Krieges, wie sehr die Wirtschaft von Primärenergie abhängig ist. Entsprechend seien Betriebe mit hohem Energiebedarf stärker geschädigt: metallverarbeitende Firmen, Elektrotechnikbetriebe und Automobilzulieferer. „Außerdem haben Firmen Probleme mit unterbrochenen Lieferketten“, sagt der IHK-Chef. Die Wirtschaft sei auf Verlässlichkeit angewiesen – und die sei durch den Ukraine-Krieg beeinträchtigt. Bei den Lieferketten sind etwa Solarfirmen betroffen, die auf die Zulieferung von Halbleitern angewiesen sind.

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Marx ist dennoch überzeugt, dass die Unternehmen der Region enorm flexibel auf die krisenhaften Entwicklungen reagiert hätten. „Diese Flexibilität gehört zu den Kernkompetenzen eines Unternehmers.“ Den meisten sei es gelungen, ihre Zulieferer zu wechseln oder von Gas auf Öl umzusteigen. Insofern habe sich der südbadische Raum im Vergleich zu anderen gut geschlagen. „Der Region kommt aber zugute, dass sie ein diverses Branchenspektrum aufweist.“

Karin Seidl, Amt für Hochbau und Gebäudemanagement

(Archivbild) Für den Landkreis ist die Unterbringung der Flüchtlinge laut Karin Seidl, Amt für Hochbau und Gebäudemanagement, eine ...
(Archivbild) Für den Landkreis ist die Unterbringung der Flüchtlinge laut Karin Seidl, Amt für Hochbau und Gebäudemanagement, eine Herausforderung. | Bild: LRA Konstanz | SK-Archiv

„Bereits Anfang 2022 hatten wir leicht steigende Zahlen bei zu uns kommenden Asylbewerbern“, berichtet Karin Seidl, Leiterin des Amts für Hochbau und Gebäudemanagement beim Landratsamt Konstanz (LRA), „durch den Ukrainekrieg vervielfachte sich die Zahl der Flüchtlinge explosionsartig“. Seidl muss mit ihrem Team dafür sorgen, dass im Landkreis genügend Unterkünfte zur Verfügung stehen. Die Aufgabe sei im Lauf des Jahres zu einer Herausforderung geworden.

Zu Beginn sei es gelungen, im Dialog mit den Gemeinden an Immobilien zu kommen – etwa die Alte Schule in Gottmadingen. Im Sommer 2022 reichen jedoch alle Bemühungen nicht mehr aus, das Landratsamt beginnt, Kreissporthallen zu belegen – eine bekannte Vorgehensweise aus den Jahren 2015/16. „Doch damals mussten wir nicht alle Hallen belegen.“ Ähnlich wie damals setze das LRA nun auf die Strategie, Geflüchtete in Leichtbauhallen unterzubringen, um die Sporthallen wieder nutzen zu können.

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„Wir tun uns aber schwer damit, wollen eigentlich eine solidere Unterbringung“, sagt Seidl. Das LRA setzt auch auf Angebote aus privater Hand, mitunter seien die Vertragsverhandlungen dabei aber sehr langwierig. Im Anschluss müsse der Vertrag dem Regierungspräsidium vorgelegt werden. „Es ist schon ein hoher Druck, ausreichend Plätze zu schaffen“, sagt Seidl, schließlich gehe es um Menschen in Not, die eine Unterkunft brauchen.

Lisa Bazun, 24 Jahre, wohnt seit einem Jahr in Konstanz

Lisa Bazun, 24 Jahre, flüchtete im April 2022 aus der besetzten Stadt Mariupol nach Konstanz und lebt seit fast einem Jahr hier.
Lisa Bazun, 24 Jahre, flüchtete im April 2022 aus der besetzten Stadt Mariupol nach Konstanz und lebt seit fast einem Jahr hier. | Bild: Wagner, Claudia

„Als wir im April 2022 hier ankamen, war für mich alles im Nebel“, berichtet die 24-Jährige. Vieles habe sie gar nicht wahrgenommen. Doch dann seien Menschen um sie gewesen, die halfen: Pater Stefan von der Reichenau, der für kurze Zeit Wohnraum vermittelte, so dass sie und ihre Familie nicht in eine Notunterkunft mussten. Später ihr aktueller Vermieter Axel Hierling in Konstanz.

Lisa Bazun kam mit Freund, Mutter und Schwester nach langer Odyssee aus dem russisch besetzten Mariupol nach Konstanz. Einen Monat lang hatte die Familie dort im Keller ausgeharrt, mit wenig Vorräten, bei Kälte und steten Bombardierungen. Die Eingeschlossenen wussten nicht, wie sie die Stadt verlassen könnten. Schließlich gelang die Flucht bis nach Konstanz.

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Die Dankbarkeit gegenüber der neuen Heimat ist groß. Vielleicht habe manches länger als erhofft gedauert, die Bürokratie in Deutschland sei eher schwerfällig. Die Hilfsbereitschaft aber richte sie regelmäßig auf. In vielen Momenten hole sie die Vergangenheit ein, berichtet die angehende Ärztin. So habe sie am 24. Dezember erfahren, dass das Haus, in dem sie in Mariupol wohnten, abgerissen werde. „Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen.“ Das Video vom Abriss zu sehen, tue weh – und gleichzeitig fühle sie sich schuldig, dass ihr die Flucht gelang, während andere die Besetzung Mariupols nicht überlebten.

Mithilfe eines Psychologen versuche sie das Erlebte zu verarbeiten. Lisa Bazun hält viel davon, nach vorne zu sehen. Es gehe ihr oft gut, wenn sie versuche, ihre Angelegenheiten zu regeln. Ihre Ziele sind groß: Sie möchte noch besser Deutsch lernen und dann ihr Medizinstudium in Deutschland beenden. „Im Moment ist das mein wichtigstes Ziel.“ Sie schließe nicht aus, eines Tages in die Ukraine zurückzukehren. Aber im Moment gebe es für sie dort kein Zuhause mehr.

Yevheniia Vdovyna, 30 Jahre, lebt seit Juni 2022 in Konstanz

Zhenya Vdovyna, hier mit der jüngsten Tochter Alina, flüchtete mit ihrer Familie Ende Mai von Chmelnizkij nach Konstanz. Die Familie ...
Zhenya Vdovyna, hier mit der jüngsten Tochter Alina, flüchtete mit ihrer Familie Ende Mai von Chmelnizkij nach Konstanz. Die Familie möchte gerne bleiben. | Bild: Wagner, Claudia

Die heute 30-Jährige kommt am 1. Juni in Konstanz an. Sie und ihre Familie stammen aus Chmelnizkij, eine Stadt in der Westukraine. „Schlimmes haben wir nicht erlebt“, meint sie. Geschosse seien über ihre Köpfe hinweg geflogen, aber die Stadt wurde nicht angegriffen. „Wir versuchten, das Thema von den Kindern fernzuhalten, aber sie wurden zunehmend nervös.“ Der Vierjährige habe immer wieder Krieg gespielt. Yevheniia und ihr Mann entscheiden, das Land mit den vier Kindern zu verlassen.

Laut ukrainischem Gesetz dürfen wehrfähige Männer mit drei oder mehr Kindern mit ihren Frauen ausreisen. Die junge Familie weiß nicht, wohin, informiert sich aber über warme Regionen in Deutschland. „So kamen wir auf Stuttgart.“ Dort fahren von einer Erstaufnahmestelle täglich Busse in Städte im Südwesten. „Wir stiegen in einen Bus und kamen im schönen Konstanz an. Geplant war das nicht“, sagt Yevheniia und lacht.

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Inzwischen hat sich die junge Familie gut eingelebt. Die beiden ältesten Töchter, neun und sieben Jahre alt, gehen in die Schule. Der vierjährige Sohn besucht eine ukrainische Spielgruppe. „Meinen Kindern gefällt es, sie haben wenig Heimweh“, sagt Yevheniia. Ein wenig quäle sie das schlechte Gewissen, denn sie wisse, dass man von jungen Familien erwarte, die Ukraine wieder aufzubauen, sobald der Krieg vorbei ist.

„Doch letztlich denke ich mehr an meine Kinder als an die Ukraine. Wir würden als Familie gerne hier bleiben. Die Stadt ist sehr schön und wir haben mit den Menschen um uns herum Glück gehabt.“ Sämtliche Schwierigkeiten, die aufkommen, könne man gut aushalten – nur die deutsche Sprache, ja, die sei doch ziemlich schwierig