Es passiert am 16. März 2020 – an diesem Montagabend kursieren Bilder plötzlich in den sozialen Medien. Fotos, die zeigen, wie zwischen Konstanz und Kreuzlingen Absperrungen errichtet werden und der Grenzzaun wieder aufgebaut wird. Die Situation hat etwas Surreales. Viele Konstanzer und Kreuzlinger können nicht glauben, was da passiert.
Ebenso unvorstellbar wie die gesamte Corona-Pandemie. Mit einem Schlag ist alles, was die Bewohner der Grenzregion für selbstverständlich erachteten, zunichtegemacht. Die offene Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland, für die sich Staats- und Stadtoberhäupter eingesetzt hatten, gehörte plötzlich wieder der Vergangenheit an.
Die Grenze kehrt damit auch optisch zurück: Das erste Stück des Grenzzauns zwischen Kreuzlingen und Konstanz wurde 1939 auf Veranlassung der Schweizer Regierung errichtet. Er trug eine Stacheldrahtkrone und zog sich vom Seeufer bis zur Zollstelle Kreuzlinger Tor. Durch ihn sollten illegale Grenzübertritte verhindert werden.
Über 66 Jahre trennten Zäune die beiden Grenzstädte – bis schließlich im August 2006 der seinerzeitige Kreuzlinger Stadtammann Josef Bieri und sein Konstanzer Amtskollege Oberbürgermeister Horst Frank zur Drahtschere griffen. Sie durchschnitten den Grenzzaun auf Klein Venedig.
Beide sprachen damals von einem „historischen Ereignis“, denn es handelt sich nicht nur um eine Stadt- und Landes-, sondern zugleich um eine EU-Außengrenze. Der Grenzzaunabbau 2006 sorgte für ein großes Medienecho – der schlagartige Wiederaufbau 2020 nicht weniger.
Die Konstanzer Kleingärtner können nicht mehr in ihre Gärten im Tägermoos. Familien und Liebespaare werden auf nicht absehbare Zeit voneinander getrennt. Einwohner, welche den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, erinnern sich angesichts von Grenzpatrouillen, schweizerischen Soldaten und der routinemäßigen Hubschrauberüberflüge an die Vergangenheit.
Doch dann wird Klein Venedig zum Anlaufpunkt der Auseinandergerissenen. Viele Menschen dies- und jenseits der Grenze treffen sich dort, um die Zusammengehörigkeit der beiden zusammengewachsenen Städte zu demonstrieren. Über den Grenzzaun hinweg wird Ball gespielt, Speisen und Getränke wandern von hüben nach drüben – ostentativ und zuweilen provokativ.
Erleichterung folgt am 15. Mai 2020, als die Grenzzäune nach zwei Monaten wieder abgebaut werden. Ebenfalls ein staatstragendes Ereignis, welches einige Konstanzer und Kreuzlinger mit Rebensaft begießen. Ein Teil des Zaun landet im Museum. Ist das die Rückkehr zur Normalität? Nein, denn erst Mitte Juni werden die Grenzkontrollen eingestellt.
Inzwischen ist die Grenze wieder problemlos passierbar, die Konzilstadt Konstanz und ihre Schweizer Schwester Kreuzlingen sind wiedervereint. Gleichzeitig soll dieser Jahrestag auch daran erinnern, das scheinbar Selbstverständliche als kostbares Gut wertzuschätzen.
Dieser Artikel wurde erstmals Mitte März 2021 veröffentlicht. Anlässlich des Jahrestags der Grenzschließung im März 2020 haben wir uns dazu entschlossen, diesen Beitrag erneut zu publizieren.