Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Um 16 Zentimeter hat sich der Giebel des schönen Jugendstil-Hauses bis Freitagabend, 26. Juli, schon geneigt. Pro Stunde wird es ein Millimeter mehr, so haben es die gelben Sensoren aufgezeichnet, die das Technische Hilfswerk am Giebel und an anderen Stellen der Fassade angebracht hat.

Gelbe Sensoren messen, wie sich die Fassade bewegt. Um 16 Zentimeter hat sich dieser Giebel bereits geneigt – nach hinten, wo es durch ...
Gelbe Sensoren messen, wie sich die Fassade bewegt. Um 16 Zentimeter hat sich dieser Giebel bereits geneigt – nach hinten, wo es durch den Brand an der Abstützung fehlt. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Wenn es so weiter geht, wird eines der Wahrzeichen des Stadler-Hauses bald nach hinten in die glimmenden und rauchenden Trümmer stürzen. Und für das Wochenende sind Gewitter und Sturm ankündigt. Spätestens dann wäre dieses Kleinod wohl verloren, im schlimmsten Fall in Trümmern doch auf die Zollernstraße gekracht, das wäre dann besonders gefährlich.

Hier packt jeder mit an: Architekt Christoph Bauer (gelbe Stiefel) arbeitet schon lange für die Hausbesitzer-Familie Stadler und ist mit ...
Hier packt jeder mit an: Architekt Christoph Bauer (gelbe Stiefel) arbeitet schon lange für die Hausbesitzer-Familie Stadler und ist mit seinem Büro Raumwerk auch Nachbar in der Zollernstraße. | Bild: Rau, Jörg-Peter

So ist die Lage, als sich die Zimmerleute von zwei Betrieben in der Region am vergangenen Freitag an die Arbeit machen. Einen Kran und einen Hubsteiger haben sie dabei. Stundenlang hatten die Telefondrähte geglüht, bis im Baustoff- und Holzhandel in aller Schnelle das nötige Material besorgt war. Architekt Christoph Bauer und Baustatiker Thomas Relling haben geplant und gerechnet, wie es gehen könnte.

Prüfende Blicke: Baustatiker Thomas Relling (links) und Aren Hofmann, Inhaber des gleichnamigen Zimmereibetriebs in Mühlingen (bei ...
Prüfende Blicke: Baustatiker Thomas Relling (links) und Aren Hofmann, Inhaber des gleichnamigen Zimmereibetriebs in Mühlingen (bei Stockach). | Bild: Rau, Jörg-Peter

Ein paar betonierte Sockel stehen schon vor dem Haus, aus dem immer noch Rauch quillt, riesige Kanthölzer sind auslegt. Doch dann, am Freitagabend, beginnt der schwierigste Teil bei der Rettung dieser historischen Fassade. Die über 16 Meter langen Balken müssen an die Fassade angebracht und als Stützwinkel verbaut werden.

Erste kritische Momente: Am Boden sind bereits Querbalken und Auflagen errichtet, jetzt kommt der erste, rund 16 Meter lange Balken, der ...
Erste kritische Momente: Am Boden sind bereits Querbalken und Auflagen errichtet, jetzt kommt der erste, rund 16 Meter lange Balken, der direkt an die Fassade angestellt werden muss. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Tonnenschwer ist die Konstruktion. Erst auf der Baustelle können alle Teile so vorbereitet werden, dass alles passt. Mit dem Kran ist der erste Balken schnell aufgestellt. Dann aber müssen die Zimmerleute ihn mit dem Mauerwerk verbinden. Aus dem Korb des Hubsteigers hantieren sie über 15 Metern Höhe mit Zwingen. Kein Job für Ängstliche.

Bei Dunkelheit und in 16 Metern Höhe: Einfach ist er Bau so eines Stützgerüsts nicht.
Bei Dunkelheit und in 16 Metern Höhe: Einfach ist er Bau so eines Stützgerüsts nicht. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Dann müssen sie die Arbeit unterbrechen. Die Feuerwehr muss nochmals ran. Immer wieder lodern kleine Flammen auf. Gelöscht ist dieser Brand auch nach fast 48 Stunden nicht. Qualm legt sich in die Zollernstraße, erschwert die Sicht und reizt die Atemwege. Die Zuschauer, die am gut bewachten Bauzaun beim Haus zum Hohen Gewölbe stehen, stört es nicht.

Hinter dem Bauzaun: Ständig beobachten Passanten die Arbeiten.
Hinter dem Bauzaun: Ständig beobachten Passanten die Arbeiten. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Bis kurz vor Mitternacht steht hier eine kleine Menschentraube und verfolgt die Arbeiten. Auch Bent und Solveig Sörensen schauen vorbei. Sie haben das Möbelhaus im Erdgeschoss jahrzehntelang geführt und erst vor wenigen Monaten an ihre Nachfolgerinnen übergeben. Ihnen ist anzusehen, wie schwer ihnen dieser Anblick fällt.

Unter Blechbewehrungen und Dachziegeln machen die Feuerwehrleute noch Glutnester aus. Fast chirurgisch löschen sie mal hier, mal da, immer bemüht, das verkohlte Gebälk nicht weiter zu schwächen.

Immer wieder müssen sie ran: Glutnester beschäftigen die Feuerwehr auch fast 48 Stunden nach Ausbruch des Brandes.
Immer wieder müssen sie ran: Glutnester beschäftigen die Feuerwehr auch fast 48 Stunden nach Ausbruch des Brandes. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Noch hält es die Giebel, besonders gefährdet sind die an der Ostseite, zur Weinstube „Zum Guten Hirten“ hin. Unterdessen arbeiten die Zimmerleute an der eilends entworfenen Konstruktion weiter. In dieser Nacht wollen sie den ersten riesigen Stützwinkel anbringen, der zweite soll dann am Folgetag bei Tageslicht folgen.

Zimmerleute, Architekt Christoph Bauer und Baustatiker Thomas Relling bauen eine Konstruktion, die die Fassade des Jugendstilhauses vor ...
Zimmerleute, Architekt Christoph Bauer und Baustatiker Thomas Relling bauen eine Konstruktion, die die Fassade des Jugendstilhauses vor dem Kollaps bewahren soll. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Auch Wolfgang Rüdiger vom Technischen Hilfswerk ist vor Ort. Seine Kameraden sorgen unter anderem für das Flutlicht. Denn das Ziel, die dringendsten Arbeiten noch bei Tageslicht fertigzustellen, ist unerreichbar geworden. Also wird in die Nacht hinein gearbeitet.

Sorgt für Licht: Wolfgang Rüdiger vom Technischen Hilfswerk.
Sorgt für Licht: Wolfgang Rüdiger vom Technischen Hilfswerk. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Als der schräg laufende Stützbalken ausgerichtet ist, der letzte Nagel eingeschlagen und die ganze Konstruktion sicher mit dem Mauerwerk verbunden ist, macht sich Erleichterung breit. Alles ist gut gegangen, die Fassade ist – so groß die Brandschäden im Inneren des Hauses sind – weitgehend intakt. Es könnte die Rettung für den vorderen, den schönsten und größten Teil des Stadler-Hauses sein.

Improvisiertes Konstruktionsbüro: Taschenrechner, Pläne – und Masken gegen Staub und Partikel in den Brandgasen.
Improvisiertes Konstruktionsbüro: Taschenrechner, Pläne – und Masken gegen Staub und Partikel in den Brandgasen. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Vorbei ist aber weder der Feuerwehr- noch der Baueinsatz. Die Feuerwehr bleibt vor Ort, müde Gesichter künden von den Strapazen der vergangenen Tage, man hält sich mit Brezeln und Apfelsaftschorle auf den Beinen.

Immer wieder müssen Feuerwehrleute am Wochenende gegen neue Brandherde bekämpfen.
Immer wieder müssen Feuerwehrleute am Wochenende gegen neue Brandherde bekämpfen. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Die Zimmerleute, der Architekt und der Statiker werden am Folgetag zurückkommen. Noch zwei weitere Stützgerüste sind geplant. Ob es gelingt, sie alle übers Wochenende fertigzustellen, steht in diesem Moment nicht fest. Aber eine wichtige Etappe ist geschafft, immerhin.

Experten retten ein Baudenkmal: Innerhalb kurzer Zeit entsteht nach dem Großbrand in der Zollernstraße in Konstanz ein Stützgerüst. Bis ...
Experten retten ein Baudenkmal: Innerhalb kurzer Zeit entsteht nach dem Großbrand in der Zollernstraße in Konstanz ein Stützgerüst. Bis die letzten Handgriffe erledigt sind, ist es spät in der Nacht. | Bild: Rau, Jörg-Peter