Es ist ein düsteres Bild, das Daniela Mier vom Corona-Jahr 2020 zeichnet. Mier ist Professorin für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Sie betont: „Die Nachfrage nach psychotherapeutischen Behandlungen ist 2020 im Vergleich zum Vorjahr im Schnitt um 40 Prozent gestiegen, bundesweit.“

Eine aktuelle Analyse der Krankenkasse DAK weist zudem für das Jahr 2020 einen neuen Höchststand bei psychischen Erkrankungen auf: Nach Rückenschmerzen waren sie der zweithäufigste Grund für eine Krankschreibung. Die Ergebnisse zu psychischen Leiden der DAK-Studie decken sich mit anderen, etwa jener der AOK.
Neben Erwachsenen sind auch Kinder und Jugendliche stark betroffen
Bei Erwachsenen hätten insbesondere sogenannte Anpassungsstörungen zugenommen, erklärt Professorin Daniela Mier. Damit sei die Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis gemeint, etwa einen Trauerfall. Dies kann sich in negativen Veränderungen des Gemütszustandes oder auch in Störungen des Sozialverhaltens ausdrücken.
„Massiv gestiegen sind auch psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen“, sagt Mier. Sie verweist hierfür auf eine weitere DAK-Studie, laut der in Baden-Württemberg jeder fünfte Schüler psychische Auffälligkeiten zeigt. „Dabei handelt es sich vor allem um Depressionen und Angststörungen“, erklärt Mier.
Gleichzeitig mangelt es an genügend Psychotherapie-Plätzen
Ebenso niederschmetternd fällt Daniela Miers Diagnose aus, wenn sie auf die psychotherapeutische Versorgung im Land blickt: „Kritisch ist, dass es insgesamt sehr lange Wartezeiten gibt.“
Bereits 2018 betrug die durchschnittliche Wartezeit auf einen Psychotherapie-Platz in Baden-Württemberg laut Bundespsychotherapeutenkammer im Schnitt 17 Wochen.
Der Nachwuchs droht wegzubrechen – weil Finanzierungszusage des Landes bisher ausblieb
Und derzeit droht sich diese Situation zu verschärfen. „Wir laufen darauf zu, dass es weniger Angebote gibt“, sagt Professorin Mier. Zum einen werden in den kommenden zehn Jahren voraussichtlich viele Psychotherapeuten in Rente gehen.
Zum anderen droht eine zusätzliche Verknappung beim Nachwuchs. Denn bisher fehlt die Finanzierungszusage des Landes für die Schaffung neuer Psychotherapie-Studiengänge an den baden-württembergischen Universitäten. Diese sollen gemäß der im September 2020 in Kraft getretenen Änderung des Psychotherapeutengesetzes die Therapeuten-Ausbildung in Deutschland grundlegend reformieren.
Bisher war eine Psychotherapie-Ausbildung erst nach Abschluss eines mindestens fünfjährigen Psychologiestudiums möglich. Künftig soll diese Ausbildung bereits im Rahmen der neuen Studiengänge beginnen.
Dadurch könnte nach dem Studium die staatliche Prüfung zur Zulassung als Psychotherapeut absolviert werden. Daran würde sich die Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten anschließen – mit einer geregelten Vergütung, die es bisher nicht gab.
Konstanzer Studenten stehen vor einem Dilemma
Fabienne Desch und Maria Kraus gehören zu denen, die sich im vergangenen Herbst für den neuen Psychotherapie-Bachelor an der Uni Konstanz einschreiben wollten – den es aber in der Form noch nicht gibt.
Beide hoffen nun, dass die Umstellung bis zum kommenden Herbstsemester klappt. Denn der bisherige Ausbildungsweg zum Psychotherapeuten bleibt ihnen voraussichtlich verwehrt, da er ausläuft.

„Im Moment weiß ich noch nicht, ob ich später als Therapeutin arbeiten oder in die Forschung gehen will“, erklärt die 20-jährige Fabienne Desch aus Engen. Aber genau diese Wahlfreiheit würde ihr der neue Psychotherapie-Bachelor lassen. Ähnlich geht es Maria Kraus. Die 19-Jährige ist für ihr Studium aus Bremen nach Konstanz gezogen.
Der SÜDKURIER trifft Fabienne Desch und Maria Kraus an einem Nachmittag Ende Februar in der Nähe des Uni-Geländes. Dabei ist auch Jacqueline Schmidt. Die 22-Jährige studiert seit drei Semestern Psychologie an der Uni Konstanz. Die Psychotherapie-Ausbildung müsste sie nach dem alten Muster absolvieren. Jedoch sei nicht restlos geklärt, was geschehe, wenn die Fristen hierfür nicht eingehalten werden können, so Jacqueline Schmidt.
Kampf für die eigene Ausbildung und die psychische Gesundheit im Land
Mit anderen Psychologie-Studenten aus Baden-Württemberg sind die drei jungen Frauen nun auf die Barrikaden gegangen. Sie haben einen Brandbrief an die zuständigen Ministerien in Stuttgart verfasst und im Internet eine Petition gestartet.
Darin fordern sie das Finanz- und das Wissenschaftsministerium auf, unverzüglich die finanziellen Mittel für eine reibungslose Psychotherapeuten-Ausbildung zu gewährleisten.
Spätestens im April bräuchte es eine Finanzierungszusage des Landes
Denn die Zeit drängt, wie auch Professorin Daniela Mier betont, die an der Universität Konstanz für die Umsetzung der neuen Psychotherapie-Ausbildung mit verantwortlich ist.
Spätestens im April bräuchten die baden-württembergischen Universitäten eine Finanzierungszusage vom Land, sagt sie: „Der neue Studiengang sieht viele Praktika und Module vor, die personalintensiv sind.“ Und dieses Personal muss erst mal gefunden und dann auch bezahlt werden. Mier befürchtet, dass ohne baldige finanzielle Sicherheit ganze Jahrgänge an künftigen Psychotherapeuten im Land fehlen werden.
Zuständige Ministerien sagen, Finanzierung sei jetzt erst mal gesichert
Am Dienstag teilte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit, das Landeskabinett habe grünes Licht für die Finanzierung der Psychotherapeuten-Ausbildung gegeben. Zuvor hatten Wissenschafts- und Finanzministerium bereits auf SÜDKURIER-Nachfrage mitgeteilt, dass sie sich auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hätten und dem Kabinett einen Beschlussvorschlag vorlegen würden.
Auf erneute Nachfrage erklärt Roland Böhm, Pressesprecher des Wissenschaftsministeriums, dass die Universitäten nun die neuen Bachelor-Studiengänge zum Wintersemester 2021/22 einrichten können.
„Die Zahl der Studienplätze soll bis zum Jahr 2024/2025 nach und nach aufgebaut werden. Vorbehaltlich des Beschlusses des Haushaltsgesetzgebers sind im Endausbau ab dem Jahr 2025 zusätzliche Mehrbedarfe von rund 12,4 Millionen Euro pro Jahr vorgesehen“, so Böhm weiter.
Das Wissenschaftsministerium halte nach wie vor für eine nachhaltige Finanzierung die Beteiligung des Bundes für zwingend notwendig und werde weiter darauf drängen.