Sie haben am Samstag auf der Kundgebung „Black Lives Matter“ am Münsterplatz gesprochen und von Ihren alltagsrassistischen Erfahrungen berichtet. Wie kam es dazu?

Glorianne Matumona: Die Kundgebung war sehr spontan. Erst am Freitag, um 13 Uhr hatten wir die Erlaubnis vom Konstanzer Ordnungsamt – und konnten Werbung machen. Zu spät für Plakate oder Presse-Statements. Alles lief über Facebook. Und trotzdem kamen 1000 Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen wollen, die uns von Rassismus Betroffenen zuhören und lernen wollen. Wir sind ja nicht in einer Großstadt wie Hamburg oder Berlin, sondern in Konstanz. 1000 Leute! Ich war so positiv überrascht. Ich habe noch nie zuvor eine Rede gehalten.

Glorianne Matumona.
Glorianne Matumona. | Bild: Eva Marie Stegmann

Sie sind noch Schülerin. Was war der Auslöser dafür, dass Sie sagten: ‚Jetzt engagiere ich mich‘?

Glorianne Matumona: Der Auslöser war, dass ich das Gefühl hatte, das ist etwas, das über mich persönlich hinausgeht. Der Tod von George Floyd hat in mir etwas ausgelöst. Ich konnte nicht mehr schweigen.

„Ich war wie in einer Schockstarre“

Linda Addae: Bei mir war es umgekehrt. Ich schwieg tagelang. Ich konnte mir die Videos von seinem Tod nicht ansehen, keine Sekunde. Ich wollte es nicht wissen. Ich war wie in einer Schockstarre. Meine Gefühlswelt wog von einem auf den anderen Tag 100 Kilo mehr. Floyds Tod ist nicht nur eine Nachricht. Es ist eine kollektive Wunde.

Linda Addae.
Linda Addae. | Bild: Eva Marie Stegmann

Und dann schrieb ich eine Rede. Erst nur für mich. Ich ging ans Münster. Sah die 1000 Leute. Beschloss: ‚Auf keinen Fall spreche ich hier.‘ Und dann, Glorianne, sah ich euch. Und die vielen Kinder in der Menge.

„Plötzlich war egal, ob ich mich blamiere“

Ein Gedanke hat mich dazu gebracht, doch zu reden: ‚Was wäre gewesen, wenn jemand für mich aufgestanden wäre, als ich ein Kind war und eine Veranstaltung organisiert hätte, damit ich verstehen kann, was um mich herum passiert.‘ Deshalb war es plötzlich egal, ob ich mich da vorne blamiere oder mich zweitausend Mal verspreche.

Was meinen Sie damit, dass Sie als Kind nicht verstanden haben?

Linda Addae: Rassismus. Seine Wirkweise. Dieses Unwohlsein, wenn man gefragt wird ‚Wo kommst du her?‘, wohl wissend, dass die Person nicht die deutsche Stadt meint, in der du geboren wurdest. Oder wenn du beleidigt wirst mit Witzen über Schwarze. Und denkst: Witze musst du tolerieren, sie sind lustig. Aber trotzdem unfassbar verletzt bist. Dich fragst, ob deine Emotionen übertrieben sind? Dieser Zwang zur Selbstverleugnung. Der hörte erst 2015 auf. Und mir wurde klar: Ich wurde mein ganzes Leben lang durch diese Witze beleidigt!

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„Boom – mein ganzes Leben machte Sinn“

Wo fanden Sie eine Sprache für das Gefühl?

Linda Addae: Im dritten Semester, Einführungsvorlesung zu Cultural Studies bei Professor Michael Butter in Tübingen. Ich kriegte zum ersten Mal mit, was ein Stereotyp ist, was Rassismus überhaupt bedeutet, woher Rassismus kommt. Ich lernte über die Kolonialgeschichte. Boom – mein ganzes Leben machte Sinn. Für die andren Studierenden war es ein: ‚Ja, interessant.‘ Für mich eine Revolution, was da passiert ist. Endlich konnte ich alles, was ich Rassistisches erlebt hatte, übersetzen. Und das ist mit 22 viel zu spät.

Glorianne Matumona: Viel zu spät. Das müsste von Kindheit an so sein. Alleine kriegt man es nicht hin. Es müsste bereits in der Schule Thema sein.

Linda Addae: Ja. Nicht nur für weiße Menschen, damit sie wissen, wie sie sich anti-rassistisch verhalten können, sondern auch für Schwarze, damit sie wissen, wann sie betroffen sind.

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Glorianne Matumona: Mir wurde von Kindheit an erklärt, dass ich im Leben viel mehr tun muss als Andere, um weiterzukommen. Von meinen Eltern. Sie wollten mich und meine Geschwister schützen. Sie sagten: ‘Wir sind hier in Deutschland, hier gibt es Rassismus, die Menschen werden dich angucken, weil du schwarz bist, die Menschen werden dich beleidigen – das sollte dir nicht so sehr zu Herzen gehen.‘

Kam es, wie Ihre Eltern sagten?

Glorianne Matumona: Ja, schon im Kindergarten hörte ich Dinge wie: ‚Warum bist du so dreckig, duschst du dich nicht gescheit?‘ Ich lernte beim Malen mit Buntstiften, was Hautfarbe ist, nämlich beige. Dabei ist es nicht DIE Hautfarbe, sondern deren und nicht meine.

Was macht das mit Ihnen, wenn man in so eine Kultur hineinwächst?

Linda Addae: Man lernt, was normal ist. Beige Hautfarbe, Stars im Fernsehen – in meiner Kindheit alle weiß. Man selbst kann sich im Prinzip nur als Abweichung dieser Normalität betrachten. Es gibt einen Standard, ein Ideal und eine Hierarchie. In der stehen wir unten. In dieser weißen Welt sozialisiert zu werden, nagt am Selbstbewusstsein jeder schwarzen Person, die hier aufwächst.

Wann wurden sie zuletzt rassistisch beleidigt oder haben sich unwohl gefühlt?

Glorianne Matumona: Ich arbeite im Nebenjob als Verkäuferin in Konstanz. Letzte Woche beobachtete mich ein Kind von Weitem. Ich wusste sofort: Das ist eines der Kinder, das noch nie in seinem Leben eine schwarze Person gesehen hat. Es kam näher und näher und schaute mich ununterbrochen an. Die Mutter ermahnte es leise. Das Kind fragte: ‚Aber warum sieht die so aus? Warum hat die so eine Haut?‘ Die Mutter antwortete, dass es verschiedene Hautfarben gebe und meine anders sei. Das fand ich nicht schön, sie hätte es dem Kind besser erklären können.

„Es muss nichts mit böser Absicht zu tun haben“

Linda Addae: Es ist supersubtil und versteckt, man hört es kaum raus. Aber, wenn man sagt, diese Menschen sehen anders aus, heißt das: Wir sind der Standard, wir sind die Norm und dieser Mensch ist die Abweichung. Anders ist immer ein hierarchisches Prinzip. Es kann ebenso in der Frage stecken: ‚Wo kommst du her?‘, wenn damit nicht die Stadt gemeint ist. Bei der Frage schließt man anhand des äußeren Erscheinungsbildes einer Person, dass sie nicht dazu gehört. Es muss nichts mit böser Absicht zu tun haben: Man sieht Deutschland in dem Fall als geopolitischen Raum, der mit weißen Menschen bevölkert ist. Man wurde hier geboren und sozialisiert und ist deutsch. Doch es wird einem aberkannt durch diese Frage – schon in der Kindheit.

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Nicht immer sind Beleidigungen so subtil.

Glorianne Matumona: Als ich in einer Bäckerei jobbte, wurde ich mit verbranntem Brot verglichen. Einmal sagte eine Kollegin zu ihrem Bekannten: ‚Ich arbeite hier mit meinen N*‘.

Linda Addae: Das N-Wort. Wir möchten so nicht bezeichnet werden und wir möchten es nicht lesen. Es ist niemals eine Eigenbezeichnung, es ist immer eine Fremdbezeichnung.

Glorianne Matumona: Wir hören das so oft. Von klein bis groß. Alte Menschen, Junge, Kinder, Erwachsene. Immer und immer wieder.

Wie ging die Szene in der Bäckerei aus?

Glorianne Matumona: Ich sagte nichts, sie fing an sich zu verteidigen. Ich solle das doch nicht auf mich beziehen, sie rede nun mal so.

Linda Addae: Das ist dieses Reden über statt Reden mit. Uns als von Rassismus Betroffenen wird aberkannt, darüber urteilen zu können, was verletzend und rassistisch ist. Andererseits gehen Weiße auch oft in Abwehrhaltung. Das ist ein ganz neues Forschungsfeld, es heißt weiße Fragilität. Weiße verbinden Rassismus mit bestimmten Epochen und Personen, Hitler, Ku-Klux-Klan etwa. Das sind Rassisten für die Leute. Und wenn wir sagen: ‚Hey, das ist rassistisch‘, denken sie, wir unterstellen, dass sie Teil von diesen Bewegungen seien. Wenn die Abwehr kommt, ist es sehr schwer, zu den Leuten vorzudringen.

Bild 3: Nach Anti-Rassismus-Kundgebung in Konstanz: „George Floyd ist keine Nachricht. Es ist eine kollektive Wunde“
Bild: Stephan Geiger

Glorianne Matumona: Medien spielen eine große Rolle. In der Grundschule bezeichnete ein Mitschüler meinen Bruder als arm. Einfach, weil er im Fernsehen immer kleine, arme, schwarze Kinder gesehen hat.

Linda Addae: Das Problem daran ist, dass das keine Eigendarstellungen sind. Die Menschen haben nicht daran mitgewirkt, wie sie dargestellt werden. Es ist eine Darstellung von Schwarzen durch Weiße.

Was würden Sie sich von weißen Menschen wünschen?

Glorianne Matumona: Dass die Menschen nicht abstreiten, dass es Rassismus gibt – und nicht sagen, wir übertreiben, wenn wir von unseren Erfahrungen berichten.

Wie können wir die Privilegien nutzen?

Linda Addae: Ein Beispiel: Online wurden die „Black Lives Matter“-Demonstrationen in Berlin als ‚Affentheater‘ bezeichnet. Das macht manche Weiße wütend. Weil sie aber nicht betroffen sind, können sie sich zurückziehen, statt einzugreifen. Das ist Teil des weißen Privilegs. Ich kann das nicht. Ich muss das kommentieren, ich kann das Handy nicht weglegen und vergessen. Ich wünsche mir, dass wir Rassismus gemeinsam bekämpfen.