Der dritte und letzte Verhandlungstag hatte es in mehrfacher Hinsicht in sich. Denn beim Prozess gegen einen Physiotherapeuten aus Allensbach wurde zum einen die Zeugin vernommen, die dem Angeklagten die meisten sexuellen Übergriffe vorgeworfen hatte. Sie schilderte detailliert, wie der 54-Jährige, der ihre körperlichen Schmerzen lindern sollte, „übergriffig wurde“.

Zum anderen hatten die Richterin und die Schöffen die schwierige Aufgabe, aus Hunderten von Chatnachrichten, mit Hilfe einer Psychotherapeutin sowie ärztlichen Briefen der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Nicht zuletzt war auch das Urteil von Richterin Heike Willenberg und ihren beiden Schöffen bemerkenswert. Denn obwohl nach zehn Stunden im Gerichtssaal einige Fragen offen blieben, überstieg das Strafmaß mit zweieinhalb Jahren Gefängnis deutlich den Antrag der Staatsanwaltschaft.

Dritter Verhandlungstag im Prozess gegen einen Physiotherapeuten aus Allensbach: Der Angeklagte (links) wird von Rechtsanwalt Andreas ...
Dritter Verhandlungstag im Prozess gegen einen Physiotherapeuten aus Allensbach: Der Angeklagte (links) wird von Rechtsanwalt Andreas Hennemann im Verfahren verteidigt. | Bild: Hanser, Oliver

Die Richterin begründet das Urteil

Das lag unter anderem an der Uneinsichtigkeit des 54-Jährigen, wie die Richterin ausführte. „Sie können sagen, das Urteil ist heftig, aber alles andere ist für mich nicht vertretbar“, so Willenberg. „Sie dürfen alles abstreiten, aber dann müssen Sie am Ende die Rechnung tragen, dass es keine Bewährungsstrafe mehr gibt.“

Die Richterin und die Schöffen haben keinen Zweifel daran, dass der Physiotherapeut sich in neun Fällen des sexuellen Missbrauchs an mehreren Frauen in seiner Allensbacher Praxis schuldig machte. Die Richterin begründete weiter: „Es gibt so viele Zeuginnen, da kann man nicht sagen, dass die alle lügen. Mir stößt es auch sauer auf, dass Sie versucht haben, sich selbst als Opfer darzustellen.“

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Das Schöffengericht halte die Zeuginnen, die als Nebenklägerinnen auftraten, für glaubhaft. Einige waren oder sind in psychotherapeutischer Behandlung. „Wenn eine Patientin mit Zähneknirschen und Nackenschmerzen zu Ihnen kommt, ist es nicht erklärbar, warum sie den Büstenhalter ausziehen musste und Sie Druckpunkte im Vaginalbereich suchten“, so Willenberg.

Auch die Fragen nach sexuellen Vorlieben oder Partnerschaften „haben nichts mit Frauenheilkunde zu tun“, so die Richterin. „Es zieht sich zudem wie ein roter Faden durch die Verhandlung, dass die Patientinnen nicht aufgeklärt wurden, bevor Sie eine interne Behandlung vornahmen. Alle wurden überrascht von Ihrem Vorgehen, außerdem gab es dafür meist keine Diagnose.“

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Am ersten Verhandlungstag war die Frage erörtert worden, in welchen Fällen eine interne Behandlung im Vaginalbereich angebracht ist, die tatsächlich in der Osteopathie angewandt wird. Und so betonte Pflichtverteidiger Andreas Hennemann erneut, das Verhalten seines Mandanten sei nicht sexuell, sondern medizinisch motiviert gewesen.

„Ist es ein sexueller Übergriff, nur weil jemand die Frauen nicht ausführlich aufklärt und die Behandlung nicht vollständig dokumentiert?“, fragte Hennemann in seinem Schlussplädoyer. Er wollte einen Freispruch erreichen.

Hennemann erklärte: „Mein Mandant ist spezialisiert auf Frauenheilkunde, deshalb muss er fragen, ob Geschlechtsverkehr stattfindet. Und bei Behandlungen im Bereich des Brustkorbs ist eine Berührung mit dem Busen unvermeidbar.“ Mehrere Frauen hatten berichtet, der Angeklagte habe in ihren Büstenhalter gegriffen und die Brust gedrückt.

„Ich sehe keinen sexuellen Kontext, mein Mandant wollte helfen“, sagt Andreas Hennemann, der Pflichtverteidiger des Angeklagten.
„Ich sehe keinen sexuellen Kontext, mein Mandant wollte helfen“, sagt Andreas Hennemann, der Pflichtverteidiger des Angeklagten. | Bild: Kirsten Astor | SK-Archiv

Hennemann betonte, dass er niemanden der falschen Aussage bezichtigen wolle. Aber er gab zu bedenken, „dass sich Aussagen ändern, je öfter man darüber spricht oder Akten liest“. Und man wisse ja, wie schnell sich Gerüchte in Allensbach verbreiten. Dies ließ Heike Willenberg nicht gelten. „Ich kann keinerlei Belastungstendenzen bei den Frauen erkennen“, sagte sie. Dennoch sprach das Gericht den 54-Jährigen in drei Fällen frei.

Dabei handelte es sich um drei der schwerwiegendsten Vorwürfe, unter anderem soll es in der Physiotherapiepraxis zu Geschlechtsverkehr gekommen sein. Doch auch nach bohrenden Nachfragen seitens der Vorsitzenden an das mutmaßliche Opfer „konnten wir nicht aufklären, ob die Handlungen einvernehmlich geschahen oder nicht“.

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Widersprüche bleiben bestehen

Einerseits hatte sich die Frau ihrem Hausarzt und einer Gynäkologin anvertraut, wie aus deren schriftlichen Berichten hervorging. Das mutmaßliche Opfer habe bei den Handlungen Ekel empfunden, ist zu hören. Andererseits machte die Auswertung eines umfangreichen Chatprotokolls zwischen der Zeugin und dem Angeklagten die Suche nach der Wahrheit nicht einfacher.

„Aus meiner Sicht ist herauszulesen, dass sich ein Verhältnis entwickelte, das über das von Patientin und Therapeut hinausgeht. Vieles deutet auf eine sexuelle Affäre im Therapiezimmer hin“, so Willenberg. Doch die Zeugin sagt, sie habe nie eine Affäre gewollt. Dennoch bleibt ihr Verhältnis zum Angeklagten ambivalent. Sie gibt an, dass sie ihn „sehr gern mochte und er gut zuhören konnte“. Doch nach den ersten sexuellen Übergriffen habe sich alles geändert, ihr sei es schlecht gegangen.

Anhand dieses Skelett-Teils erklären die Zeuginnen, wo es zu Berührungen im Bereich des Schambeins gekommen sein soll.
Anhand dieses Skelett-Teils erklären die Zeuginnen, wo es zu Berührungen im Bereich des Schambeins gekommen sein soll. | Bild: Kirsten Astor

Wie aber passt das mit den schmeichelhaften Nachrichten zusammen, die sie dem Angeklagten schickte? Heike Willenberg zitierte aus den Chatnachrichten, in denen Vorwürfe, aber auch eindeutige Liebesbekundungen vorkommen. „Und warum gingen Sie nach den ersten Übergriffen noch zwei weitere Jahre in seine Behandlung?“, wollte die Richterin wissen.

Die Zeugin antwortete: „Weil ich glaubte, dass die Behandlung mir hilft.“ Tatsächlich hätten sich ihre körperlichen Beschwerden gelindert. Sie habe auch mehrfach versucht, sich von dem 54-Jährigen abzugrenzen, doch es sei ihr nicht gelungen: „Wir steckten schon tief in einem kranken emotionalen Abhängigkeitsverhältnis.“

Die Sache mit dem Frauenhilfeverein

Sie gibt an, die Liebesnachrichten nur geschrieben zu haben, um sich an ihm zu rächen – auch weil sie inzwischen mitbekommen hatte, dass es außer ihr weitere mutmaßliche Opfer gab. In diesen Kontext ordnet sie auch ihre Aussage ihm gegenüber ein, sie arbeite für einen Frauenhilfeverein, der Männer ihrer sexuellen Taten überführen wolle. „Damit wollte ich ihm Angst machen.“

Im Namen des Gesetzes: Im Amtsgericht wird das Urteil im Prozess gegen einen 54-jährigen Allensbacher gesprochen.
Im Namen des Gesetzes: Im Amtsgericht wird das Urteil im Prozess gegen einen 54-jährigen Allensbacher gesprochen. | Bild: Hanser, Oliver

Das Urteil sorgte bei den Nebenklägerinnen für Erleichterung. Sie umarmten sich, es flossen Tränen. Allerdings kann innerhalb einer Woche Berufung oder Revision eingelegt werden. Werden der 54-Jährige und sein Anwalt von diesem Recht Gebrauch machen? „Dazu kann ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern“, so Andreas Hennemann auf SÜDKURIER-Nachfrage.

Doch selbst, wenn sein Mandant das Urteil akzeptieren sollte, könnte ein weiteres Gerichtsverfahren auf den Therapeuten zukommen. Denn laut Heike Willenberg meldeten sich inzwischen weitere Frauen, die ihm sexuelle Übergriffe vorwerfen.