Der Tag, an dem Richterin Heike Willenberg einen Freispruch verkünden, aber genauso schockiert und sauer sein wird, beginnt mit einem Mann, der reden will. Und das, obwohl seine Verteidigerin geplant hat, nur eine Erklärung vorzulesen – eine kurze Erklärung in zwei Sätzen. Doch für den 23-Jährigen steht viel auf dem Spiel: Es geht um Freiheit oder mindestens zwei Jahre Haft. Denn: Die Vorwürfe im Raum wiegen schwer.
Er soll 2019 eine damals 15-Jährige in einer Konstanzer Tanzschule gezwungen haben, ihn oral zu befriedigen. Und sie dann später im Auto auf einem Parkplatz nahe der Schänzlebrücke vergewaltigt haben, so heißt es in der Anklage der Staatsanwaltschaft.
Eine Wahrheit, eine Lüge?
Fast drei Stunden lang wird er seine Version der Geschichte erzählen. Und fast drei Stunden wird die mittlerweile 17-Jährige aussagen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil sie minderjährig ist. Sie wird sagen, es sei zu einer Vergewaltigung gekommen, fasst es Willenberg zusammen. Er hält dagegen – im Raum dazwischen liegt irgendwo eine Wahrheit und eine Lüge. Oder vermutlich zwei verschiedene Wahrnehmungen, die jede für sich ihre Wahrheit enthält.
Doch von vorn: 2018 übernimmt der heute 23-Jährige als Tanzlehrer einen Hip-Hop Kurs in Backnang. Und ein Mädchen fällt ihm besonders auf: „Sie hat zurückhaltend in der letzten Reihe getanzt. Und ich dachte, ihr geht es nicht gut.“
Dass die damals 14-Jährige die Trennung ihrer Mutter mit ihrem Stiefvater verarbeitet und sich ritzt, erfährt er erst viel später, sagt er. Mit ihr beginnt er eine Affäre – obwohl er da schon mit einer anderen, seiner heutigen Frau zusammen war.
„Wir schrieben uns bis mitten in der Nacht“
Die beiden schreiben sich per Whatsapp, schicken sich Nacktbilder hin- und her. Die 14-Jährige erlebt ihr erstes Mal mit ihm. Scheint verliebt, sagt eine Freundin von ihr aus. „Wir schrieben uns teilweise bis mitten in der Nacht, auch als er mit seiner Partnerin im Urlaub war und ich mit meinen Eltern“, zitiert Richterin Willenberg die Schülerin aus einer polizeilichen Vernehmung.

2019 zieht der Angeklagte ins Hegau und wechselt an eine Tanzschule nach Konstanz. Doch der Kontakt zur mittlerweile 15-Jährigen reißt nicht ab, wie die Chat-Verläufe der beiden belegen. Auch nicht, als seine Frau gerüchteweise von dem Seitensprung erfährt.
Um seine Frau zu täuschen, blockiert er die 15-Jährige auf Whatsapp – ganz so als hätte er den Kontakt zu ihr abgebrochen. Eine Farce, wie die Chat-Protokolle, die der Richterin vorliegen, zeigen. Denn: Auf Telegram, einem anderen Messaging-Dienst, hat er die Jugendliche gleich wieder hinzugefügt mit den Worten: „Ich habe dich nicht blockieren wollen. Ich musste die Gerüchte im Keim ersticken.“
Als die Schülerin mit ihrer Mutter im Herbst 2019 Urlaub in Meersburg macht, wollen sich die beiden treffen.
„Kannst du mich an der Fähre in Konstanz abholen?“, schreibt die 15-Jährige per Telegram.
„Kostet aber“
„Was denn?“
„Dafür musst du schon etwas Spezielles tun. Und wenn wir fahren, ein bisschen Hand anlegen“, schreibt der damals 21-Jährige und sagt vor Gericht: „Es war klar, dass wir miteinander schlafen.“ Aber: „Alles ist einvernehmlich gewesen.“ Der Oralverkehr in der Tanzschule und der Sex im Auto.
23-Jähriger will „fürsorglich“ gewesen sein
„Haben Sie gemerkt, dass sie Tränen in den Augen hatte?“, fragt die Richterin – das hatte die Schülerin nämlich zu Protokoll gegeben.
„Sie hat nicht geweint. Und ich habe ja auf sie aufgepasst, sie gefragt, ob es ihr gut geht.“
Ein Satz, der Willenberg irritiert, fast schon verärgert: „Das Mädchen war in Sie verliebt. Und dann reden Sie von fürsorglich. Es tut mir leid, aber da werde ich wirklich richtig sauer. Sie haben sie ausgenutzt.“
Ob er gewusst habe, wie verliebt die 15-Jährige gewesen sei? Und ob sie gesagt hätte, wie unwohl sie sich fühlte? „Sie wusste, dass ich meine jetzige Frau liebe“, sagt der 23-Jährige. „Und nein, von einer Vergewaltigung oder einem Unwohlsein hat sie nie gesprochen.“ Auch dass die Schülerin nach dem Geschlechtsverkehr Schmerzen gehabt und geblutet habe, wie sie bei der Polizei angab, will er nicht bemerkt haben.
Absolut identische Aussagen
Doch auffällig ist schon, dass die damals 15-Jährige – und ihre beste Freundin im Wortlaut die gleichen Angaben bei der Polizei gemacht haben. „Haben Sie sich abgesprochen?“, fragt Richterin Willenberg die beste Freundin. „Nein.“
Auffällig ist auch, dass die Mutter des Mädchens, die während des Treffens im Sea Life in Konstanz war –die damals 15-Jährige im Nachgang als Erste wieder sah und von der mutmaßlichen Vergewaltigung nicht gemerkt habe. Oder dass im Gerichtssaal nie davon gesprochen wird, dass sich die Jugendliche gewehrt habe. Anzeige hat sie im Sommer 2021 erstattet, knapp zwei Jahre nach dem Treffen.

Eine Polizistin, die die Schülerin letztes Jahr vernahm, fasst ihren Eindruck so zusammen: „Ich glaube ihr, dass sie sich überfordert gefühlt hat. Dass sie den Sex nicht wollte. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie das auch zum Ausdruck gebracht hat.“
Weil sie stutzig geworden sei, habe sie vor weiteren Vernehmungen erst die Staatsanwaltschaft um eine Einschätzung gebeten, sagt die Polizistin. Denn: „Ich habe mich schwergetan mit diesem großen Vorwurf im Raum, den ich ernst nehmen wollte. Auf der einen Seite und auf der anderen die Chat-Nachrichten, die schon eindeutig sexuell angehaucht waren. Wo von vornherein klar war, wenn wir uns in Konstanz treffen, werden wir Sex haben.“
Ganz ähnlich formuliert es Richterin Heike Willenberg in ihrer Urteilsbegründung: „Nach dem Strafrecht sind Sie nicht schuldig“, sagt sie dem 23-Jährigen. „Aber moralisch sind Sie es schon. Sie haben das Alter und die Verliebtheit der Betroffenen ausgenutzt.“
Ihre wohl wichtigsten Worte richtet sie aber an die mittlerweile 17-Jährige. „Wir glauben Ihnen, dass Sie den Sex nicht wollten. Wir wissen nur nicht, ob Sie das auch so zum Ausdruck gebracht haben. Sie sagen, sie wollten das nicht. Er sagt, er hat davon nichts mitbekommen. Und wir waren eben nicht dabei.“ Heike Willenberg setzt noch einmal an: „Das ist kein Freispruch, weil wir Ihnen nicht glauben. Das ein Freispruch in dubio pro reo. Also im Zweifel für den Angeklagten.“