Hannah Jansen ist gerade erst angekommen und schon voll integriert. Die 20-jährige aus München besucht an diesem Wochenende ihre Freundin Alma Spathelf in der neuen Konstanzer WG. Die beiden Freundinnen sitzen mit Mitbewohner Anjana Perera um den runden Holztisch in der warm beleuchteten, riesigen Wohnküche und spielen ein Gesellschaftsspiel.

Von links: Anjana Perera, Alma Spathelf und Hannah Jansen.
Von links: Anjana Perera, Alma Spathelf und Hannah Jansen. | Bild: Isabelle Graef, Collage: Eva Stegmann

„Als ich die Wohnung betrat, dachte ich: ‚Wow!‘ Ich finde die WG unheimlich groß, ich bin überwältigt“, sagt sie.

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In der WG Video: Isabelle Graef

Freundin Alma Spathelf, die seit Anfang des Semester Psychologie in Konstanz studiert, zahlt um die 300 Euro für ihr Zimmer. „Meine Kommilitonen zahlen zum Teil das Doppelte und haben nicht so viel Platz“, sagt sie. Was ihr am besten an der WG gefällt? Es ist das, wofür das selbst gebaute „Gästezimmer“ im Eingangsbereich steht. Gastfreundschaft.

Ein selbst gebautes Etagenbett für Gäste der WG.
Ein selbst gebautes Etagenbett für Gäste der WG. | Bild: Eva Marie Stegmann

Vor einigen Jahren hatte Anjana Perera, der seit seinem Studium hier lebt und mittlerweile Architekt ist, die Idee, Geflüchtete in WGs aufzunehmen – und so bei der Integration zu helfen. Die Verwaltung war angetan, das Projekt wurde umgesetzt. Nicht nur die WG – der Wohnblock und das ganze Areal seien bunt gemischt, was sie persönlich als große Bereicherung empfinde, sagt Alma Spathelf.

Das Bunt im Grau

Auf den ersten Blick wirken die Wohnblocks auf dem ehemaligen 1936 erbauten Kasernengelände zwischen Wollmatinger Straße und Gleisen an diesem Tag etwas grau, Nieselregen fällt vom Himmel und auf die Kronen der fast 200 überall auf dem Areal verteilten alten Bäume. Wer sich ein wenig umschaut, findet auf dem Chérisy-Areal aber eine Art zu leben, wie sie in Konstanz auf einer Fläche dieser Größe wohl einmalig ist.

Ein paar Blocks von der WG entfernt befindet sich das Kinderhaus. Es ist genau wie die 123 Wohnungen verwaltet von der „Neue Arbeit GmbH“. Direkt über der Betreuungseinrichtung hat die ihren Sitz. Bei geöffnetem Fenster gehören tobende und lachende Kinder zum Sound der Verwaltungsspitze. Einmal übers Treppenhaus hinauf:

Treppenhaus.
Treppenhaus. | Bild: Eva Marie Stegmann

Die „Neue Arbeit GmbH“ ist ein gemeinnütziges Bildungs- und Beschäftigungswerk. Es ist hervorgegangen aus einer Studierendeninitiative, die in den 80-er-Jahren begann, in der leer stehenden Kaserne in Eigenregie Wohnungen zu sanieren.

Heute sind in der Hand der „Neue Arbeit GmbH“ nicht nur 123 Wohnungen, sondern unter anderem eine eigene Werkstatt, ein Kinderhaus, Projekte mit Langzeitarbeitslosen, jugendlichen Straftätern oder Geflüchteten.

Am Eingang vom Büro des Geschäftsführers Andreas Maucher empfangen die Besucher diese Schilder:

Bild 4: Ort der Glückseligkeit für Studierende, Künstler und Revolutionäre? So lebt es sich in der Cherisy
Bild: Eva Marie Stegmann

Ohnehin scheint das Team gerne mit einem Augenzwinkern und besonders gerne in Form von Schildern zu kommunizieren:

Bild 5: Ort der Glückseligkeit für Studierende, Künstler und Revolutionäre? So lebt es sich in der Cherisy
Bild: Isabelle Graef

Wenn Andreas Maucher über das Projekt Chérisy spricht, dann jedoch nicht mit einem Augenzwinkern. Sondern mit Stolz.

„Wir haben hier ein Wohngebiet, das im Unterschied zum Rest von Konstanz nicht segregiert, also sozial getrennt, ist: Arm und Reich, Studierende und Arbeitslose, Familien, Künstler und Geflüchtete leben hier“, sagt er.

Andreas Maucher, der Geschäftsführer der „Neue Arbeit GmbH“ in seinem Büro.
Andreas Maucher, der Geschäftsführer der „Neue Arbeit GmbH“ in seinem Büro. | Bild: Eva Marie Stegmann

Zwischen Aschenbecher und Porträt des Soziologen Pierre Bourdieu an der Wand hat sich Andreas Maucher mit seinem Team genau die eigenwillige Art Freiraum geschaffen, die er im Gespräch über das Leben in der Chérisy beschreibt. Alles irgendwie gemeinschaftlich, basisdemokratisch, jeder packt an, ein bisschen zusammengestückelt.

Überschwemmung! Und alle packen an ...

Er erzählt von einer Überschwemmung in Block vier: Wasser in Wohnungen, im Keller. Als die Verwaltung an der Unfallstelle ankam, hätten bereits 20 Leute im Wasser geschöpft. „Und da waren welche dabei, deren Wohnungen gar nicht überschwemmt waren. So ist das eben hier“, sagt er.

Die Chérisy, das ist nicht nur Wohnen. Es gibt Treffpunkte wie Kino Zebra und Kulturladen, den Bioladen Wegwarte, die Awo betreibt einen Stadtteiltreff.

Wer lebt hier?

5,41 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter kosten die Wohnungen derzeit. Einziehen dürfen Menschen mit Wohnberechtigungsschein oder Studierende. Aber da sind auch noch andere. Die schon lange da sind, oft ehemalige Studenten, die mittlerweile eigentlich zu viel Einkommen für die Chérisy hätten. Maucher spricht vom „utopischen Überhang“. Viele Künstler, Schauspieler, auch Anwälte seien das. Genau dieses „reich“, das aus Mauchers Sicht die Mischung ausmacht.

Ein Künstler, der sich niedergelassen hat und schon in der Band von Legende Janis Choplin spielte, ist der Amerikaner Paul Amrod. Er empfängt in seine ausladende Wohnung. „Die haben mich verrückten Amerikaner hier gleich akzeptiert“, erinnert er sich an die Anfänge. Er lernte auf dem Areal der Kaserne seine große Liebe kennen, Bernadette Maison, mit der er eine Familie gründete. Dann spielt der 72-Jährige Jazzpianist erst einmal etwas vor.

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Paul Amrod am Klavier Video: Isabelle Graef

Wenn Paul Amrod in die Tasten haut und das Fenster offen ist, kann Hubl Greiner ihn gut hören. Die beiden sind Freunde, Greiner ist Musiker und Filmemacher und lebt seit 1988 in der Chérisy. Er und seine Partnerin, die Schauspielerin Claudia Knupfer, sind zu Besuch bei Paul Amrod. „Mein liebster Mensch von allen“, sagt Amrod über Greiner.

Zwei Freunde: Hubl Greiner und Paul Amrod (rechts)
Zwei Freunde: Hubl Greiner und Paul Amrod (rechts) | Bild: Isabelle Graef

Die beiden Freigeister haben schon viele Musik-Sessions draußen auf der großen Wiese gemacht, mit allen, die dabei sein wollten. Der 68-jährige Hubl Greiner drehte sogar einen Film über die Chérisy.

Was mögen sie alle am Leben hier? „Es ist ein Lebensentwurf, Dinge gemeinsam zu machen, statt alleine und sich einzubringen“, sagt Knupfer. Da wären die jungen Leute, die sich „Superhelden“ nennen und sich zur Aufgabe gemacht haben, Sperrmüll von ehemaligen Bewohnern auszumisten. Da wäre das in Eigenregie organisierte Chérisy-Fest jedes Jahr. Und und und.

Die ehemalige Kaserne also, ein Ort der Glückseligkeit? Natürlich gibt es auch Probleme und offene Fragen. Wie Projekte wiederbelebt, Streitigkeiten beigelegt oder Freiräume geschützt werden können. Aber, sagt Paul Amrod: „Ich möchte hier niemals weg.“