Im Quartiers-Hof an der Bruder-Klaus-Straße gibt es einen Wochenmarkt, und das täglich, 24 Stunden. Na ja, nicht ganz. Es ist ein Automat, der dort neben einem Café steht und regionale Produkte anbietet: Fisch und Gemüse von der Reichenau, Fleisch aus Dettingen, Obst aus Oberdorf, Eier von einem Hof in Hohenfels.
Florian Ziegler füllt gerade die Schubladen auf. Im April hat er mit seinem Startup losgelegt, „Hofliebe“- der tägliche Wochenmarkt“, drei Automaten stehen schon in der Stadt. „Das Aufstellen ist schwierig, die Stadt unterstützt das nicht!“ Also muss er Privatleute finden, die ihn auf ihre Fläche lassen.
Ziegler hatte die Idee, weil er gerne auf dem Markt einkauft. „Aber da sind oft die Konstanzer Höfe gar nicht vertreten.“ Hier in der Umgebung von Konstanz gäbe es so viele hervorragende Nahrungsprodukte, die wollte er nah an den Kunden bringen. „Es kostet dasselbe wie im Laden.“ Ist aber jetzt vor Ort und jederzeit einzukaufen. Der Automat trägt wie das Café „freshbites and coffee“ nebenan dazu bei, dass dieser Platz sich mit Leben füllt.
Im Café wird auch auf Nachhaltigkeit Wert gelegt: Das Essen zum Mitnehmen gibt es in Rebowls, also Plastikschüsseln, die Wegwerfmüll vermeiden. Der Besitzer war Sportler und wollte mehr Auswahl „als nur zwischen Döner und Pizza“. In der Reihe gibt es noch einen Friseur, eine Bäckerei und ein Fitnessstudio, das verspricht, mit Stromstößen tiefliegende Muskulatur zu aktivieren. Gegenüber bringen ein Fitnessstudio und die Physiotherapieschule junge Menschen auf den Platz, die hier Pause machen. Belebung, die dem Quartier gut zu Gesicht steht.
Über die Geschichte des Quartiers
Der Petershauser Bahnhof ist direkt gegenüber, dahinter die Gemeinschaftsschule. Das gewaltige Z der Brücke ragt über die Gleise, man wähnt sich mittendrin. Irgendwie ist es Stadt, aber auch recht beschaulich, zum Wohnen gerade recht. Vor der Bebauung war das Gebiet eine wilde Fläche mit Gewerbegebäuden, die sogar an die Zuggleise angeschlossen waren. Jetzt stehen hier akkurate Wohnblöcke mit begrünten Innenhöfen und Spielplätzen. Große Bäume wurden gepflanzt, für deren Wurzeln sogar jeweils ein Tiefgaragenplatz geopfert wurde.

„Als Kind hier aufzuwachsen, das muss toll sein“, findet Uschi Görlich, die mit ihrem Ehemann Peter Krautter in der Bruder-Klaus-Straße im WOBAK-Komplex wohnt. Als das Paar hier einzog, konnte Peter Krautter noch laufen. Dann kam der Rollator, heute sitzt er in einem hochtechnisierten Rollstuhl, der es ihm sogar ermöglicht, sich aufzurichten.
Die Multiple Sklerose schreitet fort. „Aber der Verstand und der rechte Arm funktionieren noch. Und für den Rest gibt es Hilfsmittel.“ Wie die zwei Leichtbaurampen, mit denen er über den Türabsatz auf die Terrasse hinauskommt. „Die haben wir entdeckt, als wir eine Schiffsfahrt auf dem Lago Maggiore unternahmen.“ Und gleich gekauft, denn das sei eben auch ein Stück Lebensqualität.

Auch das Bad durften sie behindertengerecht mit Zustimmung der Wobak umbauen: Badewanne raus und eine flache Dusche rein. 4000 Euro wurden von der Pflegekasse als Zuschuss zu der Maßnahme übernommen. So eine Maßnahme würden sie sich auch von der Stadt wünschen: Dass sie die „Baumskelette“ an der Sankt-Gebhard-Straße gegen lebendiges Grün austauscht. „Die sehen wirklich erbärmlich aus.“ Ansonsten aber, finden beide, sei es ein Glücksfall, hier wohnen zu können.
Im Umfeld, so Krautter, gäbe es vom badischen Essen über Vietnamesen zum Libanesen einfach alles. Und eine Straße weiter ist ein Lebensmittelladen. „Der ist so klein, da komme ich mit dem Rollstuhl gar nicht rein, aber wenn ich vorfahre, werde ich draußen bedient.“ Während Corona brachte der Ladenbesitzer ihnen die Nahrungsmittel sogar nach Hause. Es gebe hier, so das Paar, ein erlebbares Miteinander.
Daniela Jarde wohnt um die Ecke in einer Vier-Zimmer-Wohnung mit ihren beiden Söhnen. Adrian ist 31, hat schwere Spastiken, sitzt im Rollstuhl, ist taub und spricht deshalb nicht. Unter der Woche ist er in Ravensburg, arbeitet und lebt dort in integrativen Werkstätten und einer Wohngruppe. „Er wird mein Kind bleiben, das ein Leben lang Betreuung braucht.“ Ein Satz, den viele Eltern von behinderten Kindern kennen.

Jarde lebte vorher in der Chérisy und bekam vom Behindertenbeauftragten der Stadt schon vor Baubeginn den Tipp, dass die Wobak hier behindertengerecht baue. „Und dann habe ich das gemacht, was man mir geraten hat: Ich habe die Wobak genervt.“ Das habe zum Erstbezug der Wohnung geführt. Heute sei sie froh darüber, hier so einen professionellen Vermieter gefunden zu haben. In ihrem Hausteil, in dem in den größeren Wohnungen viele Familien mit Kindern leben, habe sie ihre „Rolle als Oma etabliert“.
Wenn sie ihre Schildkröten spazieren führt, kommen die Kinder und staunen. Dennoch fühle sie, dass ihr Sohn für die meisten Kinder „ein Fremdkörper“ geblieben sei. Ein erwachsener Junge, der nicht hört und spricht, aber unbedingt Kontakt sucht, verschrecke die anderen leider öfter. Und so erlebt die Mutter im Miteinander der Wohnanlage auch immer wieder ein Nebeneinander.
Sabine Weiß lebt mit ihrer 22-jährigen Tochter Nicola ebenfalls im Quartier. 2012 sind sie eingezogen. Früher fuhr werktags jeden Morgen der Malteser-Bus vor und holte Nicola ab, um sie in die Regenbogenschule zu bringen. Seit zehn Jahren kann sie nicht mehr selbstständig laufen. Ein Nervenleiden mit Namen Metachromatische Leukodystrophie (MLD) hat sich bei dem Kind in der ersten Klasse gezeigt. „Nicola war agil, im Sportverein, sie hat ohne Punkt und Komma geredet.“

Der Krankheitsverlauf konnte zunächst etwas abgebremst werden, weil Nicola von ihrem Bruder eine Knochenmarksspende bekam. Heute fällt ihr das Sprechen schwer, Bewegungen sind verlangsamt. Dafür strahlt Nicola viel mit ihren Augen, sie liebt Witze und Comedy, und wenn sie lacht, dann kommt das tief aus ihr heraus. Die Mutter ist darauf angewiesen, dass sie vom Sozialamt Betreuung genehmigt bekommt, ein „ewiger Kampf“, wie sie zu berichten weiß. Der Kraft kostet und manchmal zermürbt.
Doch das Wohnen hier sei angenehm. „Ich muss eigentlich nicht in die Stadt. Es gibt alles in der nahen Umgebung.“ Im Haus hilft man sich aus: Pakete annehmen, Blumen gießen, Hausschlüssel werden vertrauensvoll weitergegeben. Wenn sie mit ihrer Tochter auf der Terrasse sitzen will, dann hebt sie ihr Kind aus dem Rollstuhl und trägt es über die Schwelle. Und so lebt man im Quartier am Petershauser Bahnhof mit Beeinträchtigung und ohne. Nebeneinander und miteinander.