Vielleicht sollte man mit jener Wunde beginnen, die das Paradies einfach in zwei Teile zerschneidet wie einen Laib Brot. Da ist der Bau der Europabrücke, die 1980 fertiggestellt wurde und dann erst einmal so unangeschlossen herumstand und deshalb im Volksmund den Namen Soda-Brücke erhielt: Sie stand nur so da.
Die Richtung Schweizer Zoll führende Straße wurde die Kummerstraße genannt, für die Höfe und Weidefläche der Altparadiesler weichen mussten. Auch eine aufwendige Stelzenkonstruktion war im Gespräch. Geworden ist es dann jener Schnitt, den man an der Fischenzstraße gut beobachten kann. Der Hof der Familie Kessler direkt neben der Brücke über die vierspurige Trasse, und dahinter die begrünte Lärmschutzwand.

Das tut schon weh, wenn man die alten Bilder betrachtet. An der Grießeggstraße ist das ebenfalls zu sehen. Hier entstanden schon in den 1950er Jahren schmale Reihenhäuser mit großen Gärten, in denen Schuppen standen. Die gibt es teilweise noch, wie den des Malerbetriebs Vögele, in dem jetzt ein Künstler seine Werkstatt hat, dahinter noch ein schmaler Streifen Grund. Und dann kommt die Wand.
Vielleicht sollte man aber auch, jetzt, da der Sommer eingekehrt ist, am „Rutsch“ beginnen, jenem anderen Ende des Dorfes am Seerhein, der neben den Wiesen vor den Sportanlagen des Schänzles liegt und an dem sich schon in den Morgenstunden erste Badende tummeln. Im Lauf eines heißen Tages wird das Gelände zu einem der größten Freibäder in Konstanz. Studenten, Senioren, Kinder lagern teilweise direkt am Wasser auf dem Asphalt. Und sie bleiben, bis zum Sonnenuntergang und darüber hinaus.

Hier haben schon Mensch und Tier in früheren Tagen das sonntägliche Pferdeschwimmen betrieben, vor dem „Fischerhus“, einem der ältesten Gebäude im Paradies aus dem Jahr 1592. Es beherbergte bis in die 1980er-Jahre das Restaurant „Zum Kranz“. Und direkt nebenan stand das „Fährhüsle“, an dem die Firma Stromeyer einen Fährbetrieb bis in die 1930er-Jahre unterhielt, um Arbeiter über den Seerhein zu setzen.
Historisches zum Quartier
Alles lange her. Heute liegen unzählige Handtücher auf dem Platz am alten Rutsch, Kindergeschrei erfüllt die Luft, die Boote an ihren Schnüren schaukeln im leichten Wind und Köpfe von Schwimmenden treiben vorbei. Direkte Anwohner und Beobachter dieses Treibens sind die Studenten Lena Binder (28) und Ole Fischke (25). Hinter der Hecke sitzen sie im Vorgarten eines Häuschens, eine Vierer-WG an der Fischenzstraße.

Ihr Vermieter wohnt nicht weit. Sie kennen den Badebetrieb von täglicher eigener Anschauung, einen Anwohner auch, der, so die Studenten, freundlich, aber bestimmt auf die Einhaltung des Parkverbotes achtet und auch jeden Morgen den Platz von Müll befreit. Die Warmmiete für ihre Zimmer seien fair. Ole Fischke vermutet, der Mietvertrag sei wahrscheinlich älter als er selbst. Zwar sei es im Winter innen oft zugig und früh dunkel. Die Nachbarschaft funktioniere aber, man sei eine sehr anständige WG.
Lena Binder fühlt sich auch nachts auf dem Nachhauseweg sicher und Ole Fischke geht sogar so weit zu behaupten, er führe hier ein „spießiges Leben“: „Beim Nachbarn leihe ich den Rasenmäher aus, mit dem anderen spreche über seine Katzen, die zur Hälfte auch bei uns lebt, und mit dritten tauschen wir uns über Pflanzen für den Vorgarten aus.“
Nur wenige Meter entfernt im Hinterhof: Der einzige Konstanzer Fischer Hans Leib vor seinem Fischgeschäft. Die Familie ist von hier, ein paar Jahrhunderte Gemüseanbau, dann wurde sein Vater Fischer, jetzt er, aber ob es nach ihm noch weitergeht? Eher nicht. „Fischerei am See funktioniert nicht mehr lange,“ stellt der 53-Jährige fest.
Der tägliche Fischfang ist zu wenig, er könnte jeden selbst gefangenen Fisch noch fünfmal verkaufen. Die Gastronomie beliefere er schon gar nicht mehr. Im Winter reiche es gerade noch, „um zwei, drei Stammkunden täglich glücklich zu machen“; natürlich müsse er zukaufen, und wenn nicht die Morgenstunden auf dem See wären...
Einige Probleme des Sees sind schnell aufgezählt: Das Zuwachsen mit Seegras, Kormorane, nährstoffarmes Wasser, Stand-up-Paddler überall, und die Quaggamuschel betoniere den Grund zu. In den vergangenen Jahren habe das alles dramatisch zugenommen. Dabei wirkt Hans Leib gelassen, wie es wohl nur Menschen sein können, die viel in der Natur sind.
Nein, er wolle nicht wie ein Kollege auf der Reichenau ein Bistro im Garten eröffnen. „Dann würde ich mir ja das letzte Stück Ruhe wegnehmen.“ So bleibt er in seiner Nische mit Catering und Fischverkauf, zweimal im Jahr gibt es ein Hoffest mit Fischknusperle. Der „Rutsch“ ist nah, aber wenn man sich im hintersten Teil des Gartens aufhalte, dann sei es hier auch noch friedlich.

Den Frieden gemacht haben auch Maja und Fritz Schächtle. Mit dem Leben als Gemüsebauern. Fritz Schächtle hat im Alter von 14 Jahren begonnen, seit 60 Jahre ist er auf den Feldern, vor einiger Zeit dann ein Schlaganfall: Am 14. Februar 2020 schloss Ehefrau Maja den Hofladen für immer. 1902 hatte der Großvater den Wochenmarkt in Whyl gegründet, erzählen die beiden, mit dem Pferdewagen haben sie damals das Gemüse hingebracht, bis dann die Bahn eröffnete und der Transport einfacher wurde.
Die Arbeit blieb die gleiche: das Anziehen der Setzlinge in den Frühbeeten vor den Häusern, Kästen mit Glasfenstern drüber. Wenn es kalt wurde, kamen Bastmatten drauf, und bei ganz kalter Witterung Holzbretter, Läden genannt. Dann das Umsetzen der Pflanzen auf die Felder hier und im Tägermoos, alles Handarbeit, morgens um vier ging es raus, Knochenarbeit.
Von den Hörenbergs kennt man vor allem noch den Paul, „Päule“ genannt, der mit der letzten Kuh im Dorf. Aber 1994 war auch mit dieser Viehhaltung endgültig Schluss. Und wäre hier mehr Platz, gäbe es noch so viele Dorfgeschichten zu erzählen, zum Beispiel von den Schmuggelaktionen, bei denen Tabakwaren und Schokolade in geheimen Taschen unter den Schürzen der Frauen oder in Fässern mit doppeltem Boden transportiert wurden.
Und heute? Museumsdirektor Tobias Engelsing schreibt in seinem Buch über das Tägermoos: „Das Paradies ist zu einem von parkenden Autos belagerten Wohndorf geworden.“ Das sieht auch Maja Schächtle so: Vor ihrem Haus kostenlose Parkplätze auf beiden Straßenseiten, was viele aus der Stadt herüberkommen lässt.
Biegt man dagegen kurz vorm Rutsch nach links ab, kommt man zu Häusern und Grundstücken, die so groß wie Fußballfelder sind – eine ländliche Ruhe. Dahinter nur noch der Saubach, die Grenze zur Schweiz. Und dahinter das Tägermoos mit seinen Gemüsefeldern, daneben der Seerhein. Wer hier leben darf, will nie mehr weg.