Rund 3000 Feierwütige, eine überraschte Polizei, vermüllte, mit Glasscherben zugedeckte Wiesen und Wege: Das sind die bereits bekannten Stichworte zu den Vorfällen am Konstanzer Schänzle in der Nacht von Samstag, 26. Juni, auf Sonntag, 27. Juni. Doch auch Tage später wirft das Geschehen noch Fragen auf: Warum war die Polizei so überrascht? Wie genau kam es zu der Massenparty? Wie lief sie ab und welche Folgen hatte sie für die Menschen, die in der Nähe wohnen? Der SÜDKURIER hat versucht, die Nacht mithilfe der Polizei und einem Anwohner zu rekonstruieren.
20.30 bis 22 Uhr: Die Ruhe vor dem Sturm
Als Thomas Martin am Samstagabend kurz vor 20.30 Uhr mit seiner Tochter von einer Bootstour zurückkehrt, ist es entlang des Schänzle-Ufers am Seerhein ruhig – ungewöhnlich ruhig, wie der 57-Jährige einige Tage später dem SÜDKURIER erzählt. Normalerweise sei hier in den Sommermonaten an den Wochenenden oft Radau und Lärm bis spät in die Nacht, betont Martin, der wie seine Tochter in unmittelbarer Nähe zum Schänzle wohnt.
Doch mit der Ruhe sollte es an jenem Samstag bald vorbei sein. Über den Kurznachrichtendienst Whats-App hatte eine Nachricht die Runde gemacht, die zur Zusammenkunft am Schänzle aufrief und mit Musik vor Ort warb, wie die Polizei bestätigt. „Das ist dann wie eine Art Schneeballsystem“, erklärt Uwe Vincon, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Konstanz. Bei ihnen sei am Samstag kurz vor 21 Uhr bekannt gewesen, dass eine solcher Aufruf über Whats-App die Runde macht.
Ein Polizeibeamter hatte sie ebenfalls erhalten, so Vincon weiter. Die Polizei machte sich auf den Weg zum Schänzle. Aber 21 Uhr fanden sich dort tatsächlich Menschengruppen entlang des Ufers zwischen Schänzlehalle und -sportplatz. Über eine größere Verstärkeranlage wurde Musik abgespielt. „Bereits relativ am Anfang haben die Beamten vor Ort die Musikanlage ausgeschaltet“, sagt Vincon.
22 bis 0 Uhr: Menschenmassen strömen herbei
„Anfänglich haben die Kollegen vor Ort gedacht, dass es noch überschaubar ist“, berichtet der Polizeisprecher weiter. Doch dann, ab circa 22 Uhr, seien plötzlich aus allen Richtungen riesige Menschenmassen zum Schänzle geströmt. Anwohner Thomas Martin beschreibt es als „heuschreckenartige Okkupation“.
Die Polizei schätzt die Anzahl Feierwütiger auf rund 3000. Die Schätzungen beruhten üblicherweise auf Erfahrungswerten, zum Teil aber auch nach einem allgemein bewährten Prinzip bei Veranstaltungen, erklärt Sprecher Vincon. „Diese Resonanz war völlig überraschend. Es waren wohl auch viele Neugierige darunter, da mit Musik vor Ort geworben worden war.“ Die Polizei sei von der Masse an Menschen überrascht worden. „In der Größenordnung war das überhaupt nicht vorhersehbar“, so Vincon.
Die Polizei stellte zusätzliche Kräfte ans Schänzle ab, die an diesem Wochenende eigentlich im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft sowie in Singen zur Kontrolle von Auto-Posern eingesetzt waren. Auch die Bundespolizei sei mit Beamten vor Ort gewesen, bestätigt Vincon. Zur genauen Anzahl der Polizeikräfte kann der Pressesprecher aus taktischen Gründen nichts sagen, denn „sollte sich am kommenden Wochenende eine gleiche Situation ergeben, könnten sich die Leute entsprechend darauf einstellen.“ Nur so viel verrät Vincon: „Hundertschaften sind nicht angefordert worden.“
0 bis 3 Uhr: Beschimpfungen gegen Beamte und Anwohner, Urin im Garten
Von einer Räumung des Platzes sah die Polizei aber vorerst ab. „Es gab weder Gewalttätigkeiten untereinander in der Menschengruppe noch Sachbeschädigungen wie Feuer, die ein sofortiges Eingreifen und eine Räumung des Areals erfordert und gerechtfertigt hätten.“ Auch die Verstöße gegen die Corona-Verordnung wie das Nichteinhalten vorgeschriebener Mindestabstände hätten eine Räumung nicht begründet. Auch aufgrund der derzeit sehr niedrigen Corona-Inzidenz in Konstanz, so Vincon.
Insgesamt seien am Samstag 80 Personen wegen möglicher Verstöße gegen die Corona-Verordnung kontrolliert worden. Die genaue Anzahl der Verstöße liege aber derzeit nicht vor, da noch nicht alle Daten im polizeilichen System erfasst worden seien.
Dass die Einsatzkräfte nicht gleich mit der Räumung des Schänzle begannen, nachdem sich dort immer mehr Menschen sammelten, liege auch daran, dass eine so große Personenzahl „nicht so ohne Weiteres weg zu befördern ist“, erklärt Vincon: „Es wäre auch unverhältnismäßig gewesen. Deshalb wurde der richtige Zeitpunkt abgewartet.“
Und dieser richtige Zeitpunkt kam gegen zwei Uhr, als nach Schätzungen der Beamten vor Ort rund die Hälfte der Feierwütigen das Schänzle verlassen hatte. Die rund 1500 verbliebenen Personen seien in lockeren Gruppen zusammengestanden, so Vincon. „Als festgestellt wurde, dass eine Abwanderung stattfindet, wurden Teams gebildet, die durch die Menge gingen und die Leute zum Gehen aufforderten, mit dem Hinweis, dass sonst Platzverweise drohten.“
Geräumt wurden dabei nicht nur das Schänzle, sondern auch einzelne Straßen, die das nahe Wohnquartier durchziehen. Dorthin hatte sich ebenfalls ein Teil der Feiernden verlagert, wie die Polizei bestätigt. Für Anwohner wie Thomas Martin wurde die Nacht dadurch noch mehr zum Horror.
„Mein direkter Nachbar und ich wehrten um circa 1.30 Uhr Dutzende von Urinierenden, besoffene Frauen und Männer, mit aufgedrehten Gartenschläuchen von unseren Gartenanlagen ab.“ Doch damit nicht genug, so Martin: „Meine Frau, die eine japanische Großmutter hat, rief aus dem Fenster um Ruhe. Sie wurde daraufhin mit johlenden Rufen diskriminierend beleidigt: ‚Scheiß-Türkin halt‘s Maul – Sieg-Heil‘.“
Auch die Polizeibeamten vor Ort wurden aus verschiedenen alkoholisierten Gruppen heraus teilweise massiv beleidigt und beschimpft, wie Polizeisprecher Uwe Vincon bestätigt. Zudem habe eine Person aus der Menge eine Flasche nach einem Polizeibeamten geworfen, die ihr Ziel nur knapp verfehlte. Der Werfer sowie zwei weitere Personen, die Platzverweise hartnäckig missachteten, seien in Gewahrsam genommen worden.
Der tätliche Angriff auf den Polizeibeamten mit der Flasche hatte Folgen. „Wie viele Beleidigungen letztendlich zur Anzeige gebracht werden, ist noch nicht bekannt. Beleidigungen sind Antragsdelikte, und es muss zunächst abgewartet und geprüft werden, ob der Beamte einen Strafantrag stellt.“
3 bis 6 Uhr: Endlich Ruhe?
Ab circa 3.30 Uhr sei dann „Schicht im Schacht“ gewesen, so Uwe Vincon. Anwohner Thomas Martin hat das anders in Erinnerung: „Von verschiedenen Gruppen auf dem Gebiet vor unseren Häusern wurde bis circa 5.30 Uhr laut Musik gespielt und weitergefeiert. Wir mussten um circa 4.30 Uhr nochmals die Polizei anrufen.“
Polizeisprecher Vincon hält es für wahrscheinlich, dass wohl auch um 5.30 Uhr noch vereinzelt Menschen unterwegs waren, die herumgegrölt hätten. Er bestätigt, was die Stadtverwaltung bereits Anfang der Woche auf SÜDKURIER-Nachfrage angekündigt hat: Die Entwicklung auf dem Schänzle soll weiter beobachtet werden, und nach dem kommenden Wochenende wollen Stadt, Polizei und Kommunaler Ordnungsdienst (KOD) zusammen die nächsten Schritte prüfen.