Der Geschäftsführer der „Neue Arbeit GmbH“, Andreas Maucher, hat die Durchschnitts-Kaltmiete parat: 5,41 Euro pro Quadratmeter. Das ist in Konstanz wohl nicht zu unterbieten. Beziehbar nur mit Wohnberechtigungsschein oder Immatrikulationsbescheinigung.

Andreas Maucher
Andreas Maucher | Bild: Michael Buchmüller

Mit eigenen Werkstätten, zum Beispiel einer Schreinerei und einem Bautrupp, werden die Gebäude selbst erhalten, die 1936 „brandbombensicher“ gebaut wurden: Drei Meter dreißig hohe Wände, lange Flure, dickes Mauerwerk mit Stahlbetondecken, die auch Feuer standhalten, was sie bei einigen Bränden im Quartier unter Beweis stellten.

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Ausgebildete Meister betreuen hier Langzeitarbeitslose in Arbeit, hinzukommen jugendliche Straftäter, die im Chérisy ihre Sozialstunden unter dem Motto „Schwitzen statt sitzen“ ableisten können. Die Chérisy steht in Konstanz noch immer für alternative Wohn- und Arbeitsmodelle. Doch die Zeiten, so Maucher, öffentlich geförderter Arbeit gebe es nicht mehr. „Wir haben hier noch Jugendliche ausgebildet, die andere nicht mal mit der Beißzange angefasst hätten.“

Die Geschichte der Chérisy

Inzwischen seien die Töpfe versiegt, das soziale Kerngeschäft ist geschrumpft. Immerhin habe man es in der Flüchtlingskrise noch geschafft, viele Studenten-WGs so „gemischt“ zu belegen, dass eine gute Integration möglich wurde. Und tausend Quadratmeter unausgebauter Dachboden ständen für den sozialen Wohnungsbau auch noch zur Verfügung. „Den Ausbau können wir aber aus unseren Mitteln leider nicht stemmen“, bedauert Maucher, die Stadt habe auf das Angebot, das doch zu übernehmen, aber bisher nicht reagiert.

Im Treppenaufgang eines alten Kasernenblocks ein Regal zum Einstellen und Ausleihen von gebrauchten Büchern, geteiltes Eigentum in der ...
Im Treppenaufgang eines alten Kasernenblocks ein Regal zum Einstellen und Ausleihen von gebrauchten Büchern, geteiltes Eigentum in der Chérisy. | Bild: Michael Buchmüller

Wer in der Chérisy wohne? „Kurz gesagt: Junge, Alte, Arme.“ Aber es gebe auch welche, die hier als studentische Hausbesetzer eingezogen sind und inzwischen als etablierte Anwälte arbeiten. Denen habe man dann nie gekündigt, auch wenn sie eigentlich nicht mehr zum „Klientel“ gehörten. Zudem seien unter seinem Vorgänger auch Wohnungen als Eigentum verkauften worden. So sei eine sehr durchmische Sozialstruktur unter den Bewohnern über die Jahre gewachsen. Die Chérisy ist bunt.

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Hans Metzger, der den Bautrupp leitet und Vorsitzender des Vereins „Soziale Arbeit“ ist und der mit seinen 67 Jahren längst in den Ruhestand wechseln könnte, nennt das Quartier „ein gallisches Dorf.“ Die Menschen hier seien anders, eigenwilliger. „Da laufen welche im Winter barfuß herum.“ Und die Verwunderung darüber steht ihm immer noch ins Gesicht geschrieben, obwohl er schon so viele Jahre hier arbeitet.

Frau Roswitha Schweichel beschreibt den Menschenschlag hier so: „Nie rechts, nachdenklich, demokratisch alternativ, humanistisch gesinnt.“ Sie wohnt an den Gleisen über der Werkstatt des Möbeldesigners Olaf Rahmstorf seit 2015 zur Miete, nebenan das Büro des Kinderschutzbundes. Der Dachstuhl ausgebaut, hell und freundlich mit großer Dachterrasse, ein Idyll, wenn da nicht die nahe Straße wäre, die über die Brücke des Fürstenbergbahnhofes führt.

Roswitha Schweichel auf der großen Terrasse, unter der sich die Werkstatt eines Möbeldesigners befindet.
Roswitha Schweichel auf der großen Terrasse, unter der sich die Werkstatt eines Möbeldesigners befindet. | Bild: Michael Buchmüller

Vor der Türe ein Kunstrasen-Bolzplatz, der Jugendlichen als Treffpunkt dient, meist mit lauter Musik bis in die Nacht. Nur jetzt zu Corona-Zeiten ist es ruhiger. In der Kasernen-Zeit waren in diesen Backsteingebäuden die Pferde untergebracht, heute finden sich hier Werkstätten für Fahrräder und Autos, drei Schreinereien, selbstständiges Gewerbe. Und darüber Wohnungen.

Roswitha Schweichel
Roswitha Schweichel | Bild: Michael Buchmüller

Mit ihren 71 Jahren hat sich Frau Schweichel noch lange nicht zur Ruhe gesetzt. Ihre humanistische Gesinnung ist an ihrem ehrenamtlichen Engagement abzulesen. Sie war aktiv im Café Mondial, sie transkribiert in der AWO-Sütterlin-Schreibstube alte Texte ins Hochdeutsche, ist bei der Antragshilfe tätig und arbeitet überm See beim großen Mittelalterprojekt „Campus Galli“ als Färberin. Eine Bewohnerin, die mit ihrem freien, weltoffenen Geist ins Quartierprofil passt.

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Die Chérisy, das ist immer noch ein alternatives Projekt, angefangen von der Kultur, die dort ansässig ist, Zebra-Kino und Kulturladen sind längst etabliert. Im Kula wird die Zwangspause gerade genutzt, um den Bühnenraum umzugestalten.

Des Weiteren auf dem Gelände ein Karate-und Dojo-Zentrum, eine Trommel- und Musikschule, eine Kindertagesstätte, eine Catering-Firma, ein Seniorenwohnheim, viele Studentenwohnungen, der Naturkostladen „Wegwarte“, der Treffpunkt für psychisch Kranke, „Die Brücke“, und ein betreutes Wohnen für unbegleitete Flüchtlinge.

Bild 5: Wie lebt es sich in Konstanz? Ausflug in die Chérisy, die einst für blinden Gehorsam stand – und durch zivilen Ungehorsam zum Wohnquartier wurde
Bild: Michael Buchmüller

In einem punkigen Keller der Jugendtreff „kontrast“. Um nur einige aufzuzählen. In einigen Wohnungen leben Künstler, Schauspieler, Musiker, manche betreiben dort auch kleine Büros als Designer oder Reisevermittler. Auch hier: Ein buntes Angebot.

Die alten Kasernengebäude noch teilweise mit Efeu zugewachsen, als seien sie aus ihrem Dornröschenschlaf noch nicht erwacht, die Eingänge offen, neben der Tür ein Regal mit Büchern zur freien Ausleihe, gegenüber verklebte alte Briefkästen mit improvisierten Namensschildern, darüber Aushänge jeder Art, alte Steintreppen führen nach oben.

Bild 6: Wie lebt es sich in Konstanz? Ausflug in die Chérisy, die einst für blinden Gehorsam stand – und durch zivilen Ungehorsam zum Wohnquartier wurde
Bild: Michael Buchmüller

Schon von außen ist manchen Aufgängen der „Sanierungsstau“ anzusehen, von dem Metzger spricht. Studenten-WGs, in denen es dreißig Jahre lang jährlichen Wechsel gab, ohne dass groß was gemacht wurde. Runtergekommen seien die, also die Wohnungen.

Zwischen den Kasernengebäuden großzügige Wiesenflächen, in denen alte Bäume sogar die Hauswände an Höhe überragen, eine Feuerstelle, drum herum stehen alte Plastikstühle, die wohl so individuell wie die Bewohner sind. Eine leicht verwilderte Parklandschaft, die ausladenden Äste eines gewaltigen Baumes sind liebevoll mit Holzstützen abgesichert.

Bild 7: Wie lebt es sich in Konstanz? Ausflug in die Chérisy, die einst für blinden Gehorsam stand – und durch zivilen Ungehorsam zum Wohnquartier wurde
Bild: Michael Buchmüller

Neben alten Kasernengebäuden stehen moderne „Klötze“, hinterm Soldatendenkmal hoch aufragend eine Studentenwohnheim, über der Straße ein grauer Block, der in seiner geradlinigen Fremdheit wirkt, als sei er von oben hinein geplumpst- und liegengeblieben, beide von einem Privatinvestor hingestellt und betrieben. Was man ihnen ansieht.

Bild 8: Wie lebt es sich in Konstanz? Ausflug in die Chérisy, die einst für blinden Gehorsam stand – und durch zivilen Ungehorsam zum Wohnquartier wurde
Bild: Michael Buchmüller

Weiter im Inneren Neubauten, in den Studenten und Familien wohnen, ein angelegter Vorplatz, dahinter offene Wiesenflächen, unter denen eine große Tiefgarage die Autos verschwinden lässt.

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Ob Corona geschuldet oder nicht- es geht beschaulich zu. Ein Mann hat sich mit seinem Frühstück nach draußen gesetzt in den Vorgarten seines Blocks, in dem alte Gartenmöbel, zu Sitzgruppen arrangiert, zwischen kleinen Wegen und Büschen stehen, das Improvisierte hat hier Methode. Man scheint Zeit zu haben. Gegenüber wird an der Außenwand renoviert.

Die Baugruppe unter Malermeister Siegi Wingenbach ist hier tätig. Wände werden verputzt, die kaputten Platten aus Muschelkalkbeton ersetzt. „Die neuen gießen wir sogar selbst!“ Der gebürtige Pforzheimer zeigt stolz auf eine Wand, an der drei neue zum Trocknen lehnen. Er kommt von außerhalb zum Arbeiten her.

Malermeister Siegi Wingenbach
Malermeister Siegi Wingenbach | Bild: Michael Buchmüller

Sein Mitarbeiter Andreas Breuninger, ausgebildeter Maler, wohnt dagegen mit seiner Familie in einem der Blocks und betont das kollegiale Miteinander. Geschäftsführer Maucher spricht von „sehr abgestuften Leistungsanforderungen“ an die Beschäftigten, bei der immer die individuelle Situation berücksichtigt werde. Ein alter Gerechtigkeitsspruch fällt einem dazu ein: Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine.

Dennoch, so Metzger, müssen natürlich Bezugstermine eingehalten werden. Die Balance hinzubekommen, ist hier die Kunst. Metzger dann eben nicht nur als Leiter der Bautätigkeiten, sondern auch als Sozialarbeiter gefragt. Vor allem bei den straffälligen Jugendlichen, bei denen manche sehr motiviert mitmachen und andere nach fünf Minuten plötzlich verschwunden sind. „Und dann musst du sie ‚ne Viertelstunde suchen auf dem großen Gelände!“

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Das Chérisy ist ein Quartier, in dem es auch darum geht, Freiräume für sich zu finden, Lebensentwürfe neu zu überdenken. Eine Selbstsuche, bei der man hier noch Umwege gehen darf. Aber wo wenn nicht in der Chérisy kann man das wenigstens noch ausprobieren?