Kaum war der erste Artikel unter dem Titel „Wie lebt es sich in Konstanz?“ erschienen, hat sich Hans-Dieter Kuhn beim SÜDKURIER gemeldet. Er habe da ein interessantes Viertel anzubieten, über das er geforscht hat. So viel vorweg: Er hat nicht zu viel versprochen.

Wer auf der Fürstenbergstraße nach Wollmatingen hinter der Volksbank links abbiegt in die Winkelstraße, der kommt in ein Wohngebiet, das kaum einer kennt. Stadtteil Fürstenberg, Kuhn hat für diesen Ausschnitt den Begriff das „Berchen-Rechteck“ erfunden. Und das atmet Geschichte.
Die Geschichte von Fürstenberg
Wir treffen uns in seinem großen Garten hinter seinem Haus am Mittelweg. Hier erzählt er von seinen Recherchen. Danach begeben wir uns auf einen Rundgang. Viele der vor über hundert Jahren erbauten Häuser sind noch in ihrer ursprünglichen Form zu erkennen. Da das Quartier aber nie – zum Leidwesen von Herrn Kuhn – unter Ensemble-Schutz gestellt wurde, durfte jeder um-, weiter- und anbauen, wie er wollte.
Das zeigt sich im heutigen Straßenbild: Liebevoll restaurierte Häuser mit Mansardendächern und historischen Fenstern stehen neben Gebäuden, an die moderne „Klötze“ angehängt wurden. Umbauten in den 70er entfernten alles Alte und ersetzten es durch geradlinige Baukörper, teilweise wurde abgerissen und neu gebaut, alte Arbeiter-Doppelhäuschen dagegen zeigen sich inzwischen wieder frisch renoviert im Originalgewand.
Während nebenan ein Bauträger am liebsten abreißen und großflächig in den brachliegenden Garten hinein bauen würde. Und dazwischen Wohnkästen aus den 1960ern. Quadratisch, praktisch, aber auch schön? Eher nicht. An manchen Häusern stehen direkt angebaute Schuppen, in den Hinterhöfen entdeckt man alte Werkstätten oder Wiesengrund mit Baumgruppen, die davon künden, dass es hier früher viel Platz gab.
Der Verkehrslärm der Fürstenbergstraße dringt nur gedämpft herunter. Zu fast jedem Haus weiß Herr Kuhn etwas zu sagen, eine Führung mit ihm nur zu empfehlen. Wir bleiben bei zwei Mittelweg-Bewohnern stehen, man kennt sich, plaudert und verabredet sich.
Erinnerungen an die Zeit nach dem Krieg
Da ist zum einen Siegfried Harder, der sage und schreibe fast 80 Jahre jetzt in diesem Haus im Mittelweg lebt. Genau so lange, wie er alt ist. Keinen Tag woanders gewohnt, seit 1941, das Urgestein dieses Reviers. Er kann sich noch daran erinnern, wie nach dem Krieg in den Häusern Soldaten aufgenommen wurden, dass man im Eichendorffweg die öffentlichen Duschen benutzte und wie irgendwann eine Wanne mit Boiler in den Keller kam.

Wie aus Güllegruben noch die Fäkalien abgepumpt wurden, vorher die Gartenbesitzer aber noch mit der Schöpfkelle etwas davon im Garten verteilten. Wie die Keller oft unter Wasser standen, als es noch keine Kanalisation gab. Wie man auf den freien Wiesen unterhalb des Hauses Fußball kickte. „Und manchmal flog der Ball zu Nachbarn in den Garten, dann mussten man oft zwei, drei Tage warten, bis man den zurückbekam.“
Wie man auf Schotterwegen bis zur Schule in Wollmatingen lief. Wie in fast jedem Garten Hühner gehalten wurden. Wie er heiratete und mit seiner Frau ins elterliche Haus einzog. „Wir unten, sie oben.“ Wie Sohn Oliver geboren wurde, die Eltern alt wurden, aber zu Hause leben konnten bis zum Schluss. „Das wünsche ich mir auch, hier in diesem Haus einmal sterben zu können!“
Ein Haus, an dem man immer wieder was machen musste, dass es nicht verkommt. Der Vater Angestellter bei der Stadt, er Fachmeister beim Amtsgericht. „Wir hatten nie viel!“ Da musste gespart werden für die notwendigen Renovierungen: Alten Holzöfen wichen einer modernen Heizung, innen wurden die Wände isoliert und ein zusätzlicher Sanitärbereich angebaut.
Generationen bleiben dem Stadtteil treu
Neben ihm hat sich dann sein Sohn mit seiner Frau 2007 einen Anbau errichtet, etwa 130 Quadratmeter eigene Wohnfläche. Die nächste Generation, die ortsverbunden bleibt. Die Schwiegertochter erinnert sich: „Für den Bau mussten wir sechs Bäume fällen, darunter eine vierzig Meter hohe Fichte.“ Die vor 50 Jahren als Weihnachtsbaum im Topf gekauft wurde. Und deren Holz dann sieben Jahre lang als Kaminholz reichte.
Vier neue Bäume ersetzen heute die gefallenen, im vorderen alten Bereich stehen alte Apfelbäume in voller Blüte, hinterm Haus ein großes Kaninchengehege und eine Laube, vor der man gemütlich sitzen kann. Kleingärtneridylle direkt am Haus.

Siegfried Harder schätzt die gute Nachbarschaft hier. „Wenn ich im Garten bin, grüßen alle, die vorbeifahren.“ Und viele bleiben auch für einen Plausch stehen. „Ich würde schon gerne noch mehr Leute hier im Viertel näher kennenlernen.“
Natürlich, von den „Alten“ seien schon viele nicht mehr da, nach und nach gestorben. Junge Familien, nein, von denen gebe es hier kaum welche, eher Senioren, mit denen man nun gemeinsam alt werde.
Die Tour durch das Quartier geht weiter
Ecke Mittelweg/Winkelstraße: ein hübsch restauriertes Haus in mattgrünem Anstrich, der Garten frisch angelegt, eine noch braune niedrige Buchenhecke als Umrandung. Vor dem Hauseingang Andreas Huber, der gerade das verrostete, über hundert Jahre alte Gestänge des Vordaches streicht.

Das Haus aus dem Jahre 1912, eines von dem Zimmermann Zirkler, der selbst in Nummer 1 wohnte, dazwischen die Nummer drei die frühere Wäscherei Merkle, die zum Hinterhof einen ganz modernen Anbau hat.
Andreas Huber ist ein Rückkehrer, 30 Jahre war er im Ausland, davon 17 Jahre an der deutschen Schule in Peking, vor drei Jahren kam er mit seiner Frau zurück, seine erwachsenen Töchter schon vorher. Das Haus immer in Familienbesitz. Seine Oma, eine Bäuerin aus dem Oberschwäbischen, habe einen Konstanzer geheiratet und mit einem Erbe dieses Haus erworben.

Ein altes Foto aus den 1930er Jahren zeige auch das Nachbarhaus, dort war die Reichsflagge gehisst, aber Omas Haus ohne NS-Symbole, sie christlich konservativ, der Zentrumspartei nahe stehend und nie in der Partei.
Huber, geboren 1953, erinnert sich, dass in seiner Kindheit im Garten immer Gemüse angebaut wurde. „Hier war alles voller Kohlköpfe. Und wir haben dann immer die Raupen der Kohlweißlinge eingesammelt und diese auf dem Hackklotz zerstückelt!“ Was ziemlich gestunken habe. Natürlich gab es auch einen Hühnerstall, der Garten so wild wie das Leben auf der Straße mit seinen zwei Brüdern und den Jungs aus der Nachbarschaft.
Gegenüber wohnte eine Hermine, die „Mine“, die freute sich, wenn man sie besuchte, und sie hatte als Einzige einen Fernseher, wo man dann etwas schauen durfte. Das sind so Erinnerungen, die auftauchen. Den knorrigen alten Kirschbaum im Garten, den habe er noch selbst gepflanzt, nach seinem Zweiten Staatsexamen, auch schon wieder fast fünfzig Jahre her.

Dann das Weggehen. Zwei Tanten und die Mutter hätten weiter im Haus gelebt. „Aber die hatten kein Geld, um am Haus etwas zu machen.“ Als er sich 2010 entschied, das Haus zu übernehmen, sei es nach Aussage einer Versicherung nur noch 30.000 Euro wert gewesen, ohne Grundstück. Dann begann das Renovieren. Eine aufwändige Angelegenheit.
Huber lag daran, das Historische zu erhalten, die unterteilten Fenster, die Dachform, er verzichtete auf zusätzliche Dachgauben, der Außenanstrich. „Der Keller war ein furchtbares Loch.“ Den Denkmalschutz, den es offiziell nicht gibt, hat er sich selbst auferlegt, neu nur einige Dachfenster und ein Abgang von der Küche in den Garten.
Ein Hauch von Asien mitten in Fürstenberg
Der Innenausbau mit einem Schreiner, der altes Holz aus städtischen Gebäuden dazu nahm. Huber brachte aus China über 200 Jahre alte, filigrane Holz-Türen aus traditionellen Häusern mit, die passten genau, dazu asiatische und thailändische Möbel. Räume mit besonderem Flair. Liebe zum Detail, die kostet. Über 300.000 Euro habe er investiert – Kapital, das er durch seinen Auslandsaufenthalt ansparen konnte, dort habe er gut verdient.

Entstanden ist ein Kleinod, das gar nicht so klein ist. „Fürstenberg gilt in Konstanz ja nicht als Premiumlage, aber wir wohnen sehr schön hier“, meint der Lehrer im Ruhestand und blickt zufrieden auf das Geschaffene. Jetzt müsse nur noch der Garten einwachsen, die Hecke höher werden und ein wenig Sichtschutz bieten.
Das Ensemble in der Winkelstraße ist in der Tat ein äußerst ansehnliches Ensemble geworden. Gelungener Beweis dafür, wie 100-jährige Häuser behutsam in die Gegenwart überführt werden können. Wer das – und einiges andere- entdecken möchte, müsste nur einmal von der Fürstenbergstraße links abbiegen und das „Berchenrechteck“ aufsuchen. Und sollte er hier Herrn Kuhn antreffen, so wird er erleben können, wie Geschichte zu atmen beginnt.