Hinter den sieben Hochhäusern bei den mehr als sieben Zwergen steht Schneewittchen im leicht verwilderten Vorgarten. Eine Scheune, ein Bauernhaus, umgeben von den kantig quadratischen Uni-Gebäuden aus den 70er-Jahren. Gegenüber einige Reihenhäuser. Vor dem Gartentor eine Wendeplatte; die Jacob-Burckhardt-Straße geht an dieser Stelle nicht mehr weiter. Ralph Sulger wohnt hier seit dem ersten Tag seines Lebens, das 1963 begann.

Fakten rund um das Quartier

Der Opa hatte Landwirtschaft, drumherum Felder, der Vater war Maurer, und nebenher gab es Hühner, Kaninchen, zwei Kühe, ab und zu Schweine und zwei Ziegen. „Die habe ich an der Kette spazieren geführt.“ Vor dem Haus ging der Trampelpfad hinunter in den Hockgraben, hinauf führte einer über den noch unbebauten Buckel zur Sonnenhalde, wo Sulger zur Grundschule ging. Und als die Uni kam, wurde gebaut.

Direkt vor ihnen entstand das erste Verwaltungshochhaus, im anschließenden Flachbau der erste Hörsaal, in der Reihe daneben vier Laborhäuser, davor Stundenwohnheime. Die flachen Bungalows drumherum für die Professoren, die Hochhäuser für die Bediensteten. Nach und nach verschwand ein Acker nach dem anderen. Die Bauern verkauften ihren Boden.

Das erste Universitätsgebäude im Königsbau, rechts der erste Hörsaal.
Das erste Universitätsgebäude im Königsbau, rechts der erste Hörsaal. | Bild: Michael Buchmüller

Vor dem Haus direkt am Schuppen wurden der Hang abgegraben, die Jacob-Burckhardt-Straße und Parkplätze gebaut. Der Hof steht, von unten betrachtet, seit Jahrzehnten auf einer Kante. „Mit den Jahren wurde es immer voller“, erinnert sich Sulger. Der Königsbau, über lange Zeit eine einzige Baustelle. Aber er hat sich seine grüne Oase mittendrin bewahrt. „Wir wollen das Ursprüngliche hier erhalten, solange es geht.“

Sulger bringt zwei Ölgemälde heraus, die den Bauernhof in seiner ganzen Idylle zeigen, bevor sich der Vater dem Bauboom anschloss, das Haus modernisierte und auf dem Hofgarten ein Flachdachgebäude mit sieben Wohnungen errichtete, das heute in Zitronengelb leuchtet. Wer da nun der Fremdkörper ist, bleibt die Frage.

Sulger mit Ölgemälde vor dem elterlichen Bauernhof, der umgeben von Hochhäusern des Königsbaus ist
Sulger mit Ölgemälde vor dem elterlichen Bauernhof, der umgeben von Hochhäusern des Königsbaus ist | Bild: Michael Buchmüller

Die modernen Quadrate sind heute jedenfalls deutlich in der Überzahl. Trotzdem wird Sulger den Platz erst verlassen, „wenn man mich mit den Füßen voraus hier rausträgt“, Im abgeteilten Nebenhaus, in dem die Großeltern bis zu ihrem Tod lebten, wohnt jetzt ein Konstanzer zur Miete, der von einem Hof aus dem Hockgraben, dem Meid-Hof, abstammt und der das Ländliche mitten in der Stadt ebenso schätzt.

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In der Werner-Sombart-Straße wohnt das Ehepaar Ute und Karl Schillinger. An das Datum des Erstbezugs können sie sich nicht mehr so exakt erinnern. Er ist 87, sie 88 Jahre alt, da mache das Gedächtnis ab und zu eine Pause.

Beide sind promovierte Historiker, die ihrem Freiburger Professor Herbert Nesselhauf 1966 nach Konstanz folgten, als dieser die Universität mitgründete. Wie so viele andere Mitarbeiter zogen sie in die neu errichteten Blocks. Sie ging an die Universität, er ans Ellenrieder-Gymnasium mit den Fächern Geschichte, Latein und Deutsch.

Das Ehepaar Schillinger, mit der Gründung der Uni eingezogen und geblieben.
Das Ehepaar Schillinger, mit der Gründung der Uni eingezogen und geblieben. | Bild: Michael Buchmüller

„In den Anfängen“, da setzt das Gedächtnis von Ute Schillinger wieder ein, „hatten wir unsere Seminarräume im Inselhotel.“ Ihr Sohn sei, bevor er zur Schule ging, von den Bauarbeitern in der Umgebung regelrecht „adoptiert“ worden und durfte mitarbeiten.

Vom Esszimmer hat man heute noch freie Sicht bis zum Turm der Allmannsdorfer Jugendherberge, und ins großzügige Wohnzimmer fällt den ganzen Tag Sonnenlicht. Ein angenehmes Wohnen sei es all die Jahre gewesen. Sie hätten sich nie um etwas kümmern müssen, zumal ihre Söhne für sie die Wohnung gekauft hätten. Die Schillingers, typische Besiedler dieses sich zur Uni hin neigenden Hangs.

Das Hochhaus, das über dem Königsbau thront, am Ende der Werner-Sombart-Straße.
Das Hochhaus, das über dem Königsbau thront, am Ende der Werner-Sombart-Straße. | Bild: Michael Buchmüller

Das auffallendste Gebäude im Königsbau ist das Hochhaus am Ende der Sombartstraße. Man will da vielleicht nicht unbedingt rein, aber von oben rausschauen würde man schon gerne mal. Der Ausblick muss überragend sein. Sandra Single hat es noch nie bis hoch geschafft, obwohl sie unten am Eingang seit 26 Jahren ein eigenes Geschäft besitzt.

Podologie (nichtärztliche Heilkunde am Fuß) und Kosmetik. „Ich bin die letzte Übriggebliebene“, sagt sie. Denn inzwischen sei allen Läden, die es einmal in dem Querblock vor dem hohen Gebäude gab, gekündigt worden. Der Besitzer richtete stattdessen Studenten-WGs ein. Single konnte man nicht vertreiben, weil sie die etwa 50 Quadratmeter großen Geschäftsräume 1996 gekauft hatte.

Sarah Single, als einzig übriggebliebene Gewerbetreibende am Eingang ihrer „Ruhezone“.
Sarah Single, als einzig übriggebliebene Gewerbetreibende am Eingang ihrer „Ruhezone“. | Bild: Michael Buchmüller

Früher habe es hier einen großen Gottlieb-Supermarkt gegeben, erzählt sie. „Der Treffpunkt des Quartiers.“ Daneben einen Zahnarzt, auch mal eine Apotheke, eine Reinigung, eine Massagepraxis. Und eine Pizzeria. „Wenn wir da essen gingen, dann war das etwas ganz Besonderes.“ Essen im Quartier eben. Von all dem ist nichts mehr übrig – nur sie selbst und ihre Praxisräume, die „Ruhezone“ heißen. Single ist in der Sonnenbühlstraße aufgewachsen, heute lebt sie im Stockackerweg. „Weit bin ich nicht gekommen.“

Sie lacht, aber darin schwingt auch die Frage mit, ob das alles so richtig war. Zur Selbstständigkeit sei sie damals „ganz naiv“ gekommen, weil es keine Vollzeitstelle für sie gab. Und dabei ist es geblieben. Ein zweites Geschäft musste sie coronabedingt wieder schließen. So oder so: Sie braucht auf jeden Fall keine Werbung. Mit den Stammkunden sei sie völlig ausgelastet, da seien welche noch von der ersten Stunde dabei. Die einen kämen, weil sie sich nicht mehr zu ihren Füßen hinunterbeugen können, die anderen suchten Wellness fürs Gesicht.

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Eine von über 1000 Studenten, die im Königsbau wohnen, ist Marie Korell. Sie lebt in einer Neuner-WG im Haus der Katholischen Hochschulgemeinde in der Werner-Sombart-Straße. Die Miete ist günstig, dafür ist Mitarbeit im Haus erwünscht; so verwaltet die WG zum Beispiel die hauseigene Gemeinde-Küche. Ihre Mutter Tina Korell ist seit 2008 dort Sekretärin, seit letztem Frühjahr hat auch der neue Gemeindepfarrer Georg Seelmann hier seinen Wohnsitz.

Marie hat in der Corona-Zeit mit ihrem Freund Tobias einen Einkaufsdienst für die älteren Nachbarn organisiert. Info-Zettel wurden in die Briefkästen geworfen. Einmal die Woche sammelte man die Listen ein und zog los, um für etwa zehn Nachbarn einzukaufen. Bei den Senioren gab es viel Gesprächsbedarf, das Abgeben der Nahrungsmittel habe oft eine halbe Stunde dauern können, aber so habe man wenigsten erfahren, „wer hier so um einen herum wohnt“. Und sogar Ersatz-Großeltern gefunden. Letzten Advent gab es etwas vom Nikolaus, ihr Freund Tobi habe sich verkleidet und sie kleine Geschenke überreicht.

Die Studentin Marie Korell mit ihrem Freund Tobias, adventliche Nachbarschaftshilfe im Jahr 2020.
Die Studentin Marie Korell mit ihrem Freund Tobias, adventliche Nachbarschaftshilfe im Jahr 2020. | Bild: privat

Das Einkaufen gehe nun schon eineinhalb Jahre so. „Bei einer Frau, die sich die Hüfte gebrochen hatte, machen wir das auch weiter.“ Nachbarschaftshilfe, solange es nötig ist. Hier im Königsbau, dessen Hang nicht nur Neigung zur Uni zeigt.