Herr Kratt, sind Sie überrascht, dass das Kaufhaus Kratt in diesem Jahr 100 Jahre alt wird?

Gute Frage. Überrascht ja, aber auch nicht. Weil Einzelhandel eine verdammt schwierige Materie geworden ist. Weil wir durch die Insolvenz unseres damaligen Partners Kaufring im Jahr 2001 immense Folgeschwierigkeiten hatten. Und dadurch sich Lieferantenbeziehungen verändert haben, das hat vielen Kollegen die Existenz gekostet. Es ist uns gelungen, das zu meistern und einen neuen Verband zu finden. Deshalb bin ich überrascht, dass wir 100 Jahre feiern können.

Und warum sind Sie nicht überrascht?

Weil wir in Radolfzell durch unsere Mitarbeiter und unsere Kundennähe ein Podium haben. Und weil wir die notwendige Bereitschaft bewiesen haben, Sortimente zu verändern und uns neuen Gegebenheiten anzupassen. Und dank einer intakten Unternehmerfamilie das so leisten konnten.

Kratt ist ein Familienunternehmen, da kann jeder Chef werden. Wie sind Sie Chef in diesem Unternehmen geworden?

Durch die Krankheit und dem frühen Tod unseres Vaters 1982 war meine Mutter Anneliese mit dem damaligen Prokuristen Otto Röder in der Pflicht, das Geschäft weiterzuführen. Dadurch wurden wir Kinder auch sehr früh in das Geschäft mit eingebunden. Nachdem alle Kinder im Geschäft tätig waren, galt es auch eine Nachfolgeregelung für meine Mutter zu treffen. Wir waren uns in der Familie einig, dass ich die Geschäftsführung übernehmen sollte.

War das für Sie immer klar, dass Sie später einmal im Familienunternehmen arbeiten müssen?

Eigentlich war mein erster Berufswunsch Schreiner. Der ist entstanden, als mein Großvater 1967 das Haus umgebaut hat. Das Geld wurde knapp und er musste wieder die alten Ladentische in den Verkaufsraum stellen. Da habe ich gesagt: Opa, ich werde Schreiner, dann kann ich dir neue Ladentische bauen. Danach waren es eher die Umstände, Zufälle, dass ich in den Beruf gegangen bin. Mir macht Einzelhandel Spaß, ich lebe diesen Beruf. Eigentlich war mir der Weg vorgegeben, aber ohne – und das möchte ich betonen – dass meine Eltern gesagt hätten, du musst Kaufmann werden.

Beschreiben Sie kurz Ihr Haus: Was zeichnet es aus, wer arbeitet hier, wer sind die Kunden?

Unser Kaufhaus hat sich kontinuierlich verändert. Das immer versucht hat, sich den Gegebenheiten anzupassen. Sei es aufgrund einer veränderten Nachfrage in Radolfzell oder einer neuen Lieferantenstruktur. So haben wir immer versucht, den Kundenwünschen gerecht zu werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir führten früher Heimwerkerzubehör, Motorenöl, Tiernahrung. Das sind alles Segmente, die jetzt in der Innenstadt nicht mehr relevant sind. Dann haben wir uns auf die Dinge konzentriert, die die Kunden wollen und für die wir eine Fachkompetenz haben. Die kommt natürlich zu einem großen Teil von unseren Mitarbeitern, die bei uns gelernt haben, die uns die Treue gehalten haben und die in der Lage sind, Problemlöser für unsere Kunden zu sein. Sie geben Kunden, die nicht online bestellen wollen, durch ihre Beratung eine Hilfestellung. Ich denke, die Nähe zum Kunden macht uns aus. Wir haben viele Radolfzeller Kunden, aber auch Auswärtige aus dem Umfeld von Radolfzell und Touristen.

Touristen kaufen im Kratt ein?

Ja, und ihre Zahl nimmt zu. Offenbar sind wir durch unser Sortiment und unser Angebot eine Attraktion für sie. Ich höre von den Touristen immer wieder: So etwas wie Ihr Haus gibt es bei uns nicht mehr.

In der Tat sind viele dieser „klassischen Kaufhäuser“ aus den Innenstädten verschwunden, Kratt hat sich in Radolfzell behauptet. Wie lautet das Erfolgsrezept?

Herzblut. Engagement, ohne die Stunden zu zählen. Ein tolles Team, das das Ohr am Kunden hat. Und vielleicht auch – das hört sich jetzt vielleicht etwas komisch an – nicht nur ergebnisorientiert zu denken. Sondern den Spagat zu finden zwischen erfolgreich sein und der Notwendigkeit, Sortimente am Standort zu halten, um eine Versorgungsstruktur zu gewährleisten.

Zum Beispiel?

Kurzwaren. Das sind Reißverschlüsse, Nähgarne, Fingerhüte, Hosenknöpfe, Gummilitzen und, und, und. Das findet man ganz selten noch in den Geschäften. Wir halten das Sortiment, um den Bedarf am Standort Radolfzell zu decken und die Nahversorgung zu sichern.

Aber damit macht man keine Marge?

Das nicht, die Kleinteiligkeit ist sehr arbeitsaufwendig und erfordert einen hohen Warenbestand. Der Lagerumschlag ist gering und somit arbeitet dieser Bereich nicht sehr wirtschaftlich. Aber bei uns sind das Bereiche, die andere Bereiche stärken.

Wer Knöpfe bei Kratt kauft, kauft dort auch Topf und Rock?

Klar! Das ist immer die Chance. Durch unsere breite Bandbreite an Warengruppen kommt es immer wieder vor, dass Kurzwarenkunden auch andere Artikel bei uns kaufen. Durch die Warenpräsentation versuchen wir, Bedürfnisse zu wecken. Die Schubladen und Kleiderschränke sind ja bekanntlich voll. Aber wer den Knopf sucht, sieht vielleicht Dinge, die er auch noch brauchen könnte: Eine neue Kaffeemaschine, ein neues Küchenmesser, eine neue Bluse.

Kratt ist noch ein Kaufhaus im wörtlichen Sinn: Es gibt Waren zum Anfassen, echte Verkäufer, die noch beraten, Kunden, die noch zur Ladentüre hereinkommen. Trägt dieses analoge Geschäftsmodell auch in der der Zukunft?

Eigentlich ja. Denn ich bin mir sicher, dass es immer Menschen geben wird, die den Kontakt suchen, die das Gespräch suchen, die die Problemlösung suchen. Die am Montagmorgen, wenn ihnen die Decke auf den Kopf fällt, zum Kratt gehen und sagen, da hole ich mir die Zeitung. Da steht die Frau Relling und mit der wechsle ich ein paar nette Worte. Ich denke, dass es diese Art von Geschäft auch in der Zukunft geben wird. Vielleicht wird dies sogar wieder stärker nachgefragt. Deshalb das persönliche Kaufhaus Kratt.

Kratt gehört zu den großen Fünf auf dem Marktplatz mit Kirche, Rathaus, Sparkasse und Österreichisches Schlösschen. Wie entscheidend ist der Standort mitten in der Stadt?

Er ist wichtig. Sowohl für uns, aber auch für die Stadt. Weil wir schon ein Magnet sind und sich die Frequenz hier sammelt. Frequenz ist für uns das A und O. Jeder, der am Haus vorbeiläuft, ist für uns ein potenzieller Kunde. Wir brauchen und sind angewiesen auf eine hohe Frequenz.

Wie wichtig ist für die Geschäftsführung und die Mitarbeiter die Identifikation mit der Stadt Radolfzell?

Außerordentlich wichtig. Wir hatten ja auch einmal den Spruch: Ein Kaufhaus für Radolfzeller von Radolfzellern mit Radolfzellern. Insofern ist unser Kaufhaus immer auf Radolfzell ausgerichtet. Das wird auch so bleiben.

Vor der Jahrtausendwende galt der örtliche Einzelhandel als höchst einflussreich in einer Stadt wie Radolfzell. Dieser Einfluss scheint heute nicht mehr so da zu sein. Wird der Einzelhandel in Radolfzell von Politik und Verwaltung noch wahrgenommen?

Gute Frage. Der Prophet im eigenen Land zählt oft nicht mehr. Das Glück für die Stadt Radolfzell ist, dass sie eine sehr gute Aktionsgemeinschaft hat, die versucht, die unterschiedlichsten Interessen zu bündeln und in der Stadt zu vertreten. Dadurch finden wir Gehör und haben Gewicht auch über die Verbände. Insofern sind wir immer noch präsent.

Wie schaut Ihre Analyse für Radolfzell aus: Was läuft gut, was fehlt?

Radolfzell kann noch zufrieden sein mit dem Angebot, was wir haben. Wenn man das mit Stockach oder Tuttlingen vergleicht, haben wir noch viele inhabergeführte Geschäfte. Es gilt jetzt, dieses Angebot zu halten und wenn möglich auszubauen. Das muss aber zentral gelingen. Das heißt, innenstadtrelevante Sortimente in die Innenstadt und nicht in die Randlagen, um den Handel noch mehr zu zersplittern. Das passiert aktuell mit dem geplanten Edeka auf dem Schoch-Areal.

Das könnte Sie auch interessieren

Für mich gehört neuer Einzelhandel – wenn er noch kommt – gebündelt auf die Friedrich-Werber-Straße, wo ein riesiges Areal vorhanden ist. Die Stadt muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass noch ein Großer kommt. Wenn in Singen das Einkaufszentrum Cano aufmacht, wird ein Großer nicht mehr nach Radolfzell kommen. Radolfzell hat die Chance, mit Spezialisten, mit Nischen, den Flair der Fußgängerzone typischer zu machen. Radolfzell sollte nie eine Stadt werden mit einem Filialisten am anderen. Wir brauchen inhabergeführte Spezialitäten, die neben Magneten wie Kaufland, Seemaxx oder auch uns eine attraktive Innenstadt bilden.

Haben Sie Ihren Frieden mit dem Outlet-Einkaufszentrum Seemaxx gemacht?

Ja. Das Seemaxx hat sich positioniert. Unsere Ängste, dass wir an den Rand gedrängt werden, haben sich Gott sei Dank nicht erfüllt. Das Seemaxx ist ein wichtiger Werbeträger für unsere Stadt. Jetzt muss es uns gelingen, den Austausch zwischen Seemaxx und Altstadt aufrechtzuerhalten. Wenn das Seemaxx – so wie es im Moment geschieht – Partner der Innenstadt bleibt, habe ich damit meinen Frieden gemacht.

Ihr Kaufhaus hat lange mit dem Slogan „der pfiffige Kratt“ geworben. Auch nach 100 Jahren bleibt der Kratt pfiffig, weil...?

...er mit der Zeit geht und trotz 100 Jahren Firmengeschichte jung geblieben ist.