Herr Vogel, Sie sind jetzt ein halbes Jahr da. Müssen wir uns auf Veränderungen in Radolfzell einstellen?
(lacht)...auf Veränderungen in Radolfzell einstellen. Nur, weil ich da bin? Ich glaube, ich bin da der geringste Grund für Veränderungen.
Als neuer Pfarrer sind Sie ja Chef einer großen Einheit und haben nicht die kleinste Rolle, da kann man schon mit Veränderungen rechnen.
Ja gut, jede neue Person bringt was durcheinander, da orientiert man sich neu, muss man gucken, wie geht‘s weiter. Wir als Kirche sind natürlich gerade in einem großen Veränderungsprozess. Von daher bin ich – glaube ich – das kleinste Rädchen in den Veränderungen. Es steht in der Erzdiözese Freiburg die „Pastoral 2030“ an, also welche Entwicklung nimmt unsere Kirche, wie geht es mit Kirche weiter. Da habe ich zwar eine wichtige Funktion im Gefüge, aber meine Aufgabe ist es ja nicht, alles vorzugeben, sondern dass wir schauen, wie entwickeln wir uns weiter.
Das ist noch Theorie. Welche Veränderungen gab es mit Ihnen schon in Radolfzell?
Wir merken, dass wir die gewohnte Gottesdienstvielfalt nicht mehr so einfach aufrechterhalten können. Da ist der Pfarrer Lämmle ins Pflegeheim gegangen, da ist der Pfarrer Leibbach ins Pflegeheim gegangen, und plötzlich brechen zwei weg, die ganz verlässlich ihre Dienste getan haben. Ein großer Einschnitt wird jetzt sein, dass nach 154 Jahren die Schwestern Radolfzell verlassen. Schwester Stella Maris und Schwester Elisa gehen Ende September nach Hegne zurück.
Welche Aufgaben haben die Schwestern bisher?
Sie haben im Krankenhaus seelsorgerische Dienste übernommen, haben sich um Kapelle und Sakristei gekümmert, brachten die Krankenkommunion und vieles mehr. Allein ihre Präsenz und dass sie ansprechbar waren für kranke Menschen, das hat schon was für sich.
Warum gehen sie nach Hegne zurück?
Aus Altersgründen und Schwester Elisa hat nach einem Sturz schwere Komplikationen mit der Heilung gehabt und dann in der Pflege gemerkt, sie sieht nicht mehr richtig und hat Probleme, den Weg zwischen Krankenhaus und Münster zurückzulegen. Jetzt haben die Schwestern die Möglichkeit, dass sie in Hegne in diesem Lebensabschnitt neu Fuß fassen. Und da hat die Gemeinschaft, wie die Schwester Oberin geschrieben hat, entschieden, dass sie ihre Niederlassung in Radolfzell auflösen. Die Schwestern aus Hegne haben hier viel geprägt. Da bricht etwas Gewohntes weg, und das in einer hohen Geschwindigkeit. Aber dafür gibt es solche Feste wie das Hausherrenfest. Wenn man in die Geschichte redlich hineinschaut, entspannt das auch.
Wie meinen Sie das, redlich?
Dass man nicht mit einer Brille auf die Geschichte blickt, die man sich zurechtzieht, sondern dass man aus der Geschichte auch lernen will.
Hatte das Hausherrenfest Krisen?
Dazu kenne ich es zu wenig. Aber dass man sich erinnert, dass die drei Hausherren, die man durch die Stadt trägt, in Krisenzeiten gelebt haben und sich positioniert haben. Und dass die Geschichte der Kirche in Radolfzell ihr Auf und Ab hatte.
Glaube und Kirche ist keine Selbstverständlichkeit?
Nein, das Christentum ist angelegt auf Beziehungen. Es ist keine Individualrelegion, in der jede Person sein eigenes Seelenheil sucht. Jesus hat sich zusammen mit Menschen auf den Weg gemacht, das zeichnet das Christentum schon aus. Und darum gibt es immer Reibungen. Wo eine Gemeinschaft ist, braucht es Strukturen, und die verändern sich, weil die Menschen heute die Botschaft Jesu anders hören als die Menschen vor 1000 Jahren.
Welche Bedeutung messen Sie aktuell dem Hausherrenfest gesellschaftlich zu?
Was mich sehr umtreibt, ist unser Umgehen mit Menschen, die aus ihren Ländern aufbrechen und warum auch immer sie sich entscheiden, eine Wegstrecke auf sich zu nehmen, die sie gar nicht abschätzen können. Ich habe einmal mit jungen Flüchtlingen im Pfarrhaus in Waldkirch darüber gesprochen. Ich habe sie gefragt: Mit dem, was Ihr heute wisst, würdet ihr euch dann noch einmal aufmachen, mit der Erfahrung, die ihr heute habt? Beide haben gesagt: Nein. Sie kamen aus Gambia und ihr Weg führte sie dann nach Libyen. Bei bestimmten Punkten konnten sie nicht weiterreden. Diese schreckliche Erfahrung hat noch keine Worte des Erzählens.
Die Erfahrung der Flucht?
Genau. Was mit ihnen gemacht wurde. In der Haft. Dann die Überfahrt übers Mittelmeer. Da finde ich die Hausherren, von denen keiner ein gebürtiger Radolfzeller ist, sondern Zugereiste. Die wurden hierhergebracht, Theopont aus der heutigen Türkei, Senesius aus Ägypten und Zeno hat seine Wurzeln in Marokko. Auch von den Hautfarben her unterschiedliche Typen. Die drei haben einen Platz gefunden und eine Verehrung, Achtung und Wertschätzung. Und zwar so, dass Familien mit deren Lebensgeschichte ihre eigene verbinden. Dass sie sagen: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gehe ich zu den Hausherren. Das kann auch unseren Blick in die Welt weiten. Damit nehmen wir keine Probleme weg, damit nehmen wir keine Fluchtprobleme weg, das heißt nicht, dass alles gut läuft, wie es ist. Aber ich finde, wir blicken Menschen anders an. Diese Art der Verehrung der Hausherren wirkt sich auf mein Verhalten gegenüber Menschen, die neu dazu kommen, aus.
Sie haben dem Hausherrenfest 2019 das Motto gegeben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Warum?
Wir haben jetzt 70 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz ist auch für uns als Kirche ein gutes Fundament, auf dem wir stehen. Dass wir so eine Prozession durch Radolfzell machen können, dass wir in der Öffentlichkeit unseren Glauben zeigen und leben können, das garantiert uns das Grundgesetz. Genau so wie für jeden anderen, der in einer anderen Religion oder Weltanschauung lebt. Das ist etwas Großes. So etwas ist aufzunehmen in einem solchen Festereignis. Dass man sich bewusst macht, was das Fundament ist, auf dem wir in unserem Land stehen. Was ist unsere Verantwortung als Bürger? Wir sind als Christen nicht aus einer anderen Welt, auch wenn wir zu einer anderen aufbrechen und als Pilger unterwegs sind. Wir sind in dieser Gesellschaft mittendrin. Die Würde des Menschen ist unantastbar, ist schnell gesagt, aber keine Selbstverständlichkeit, das einzuholen. Theopont und Senesius wurden getötet. Da war die Würde des Menschen antastbar, sie wurde missachtet und verletzt. Christentum hat auch etwas mit einem politischen Verhalten zu tun.
Es wird Ihr erstes Hausherrenfest als Pfarrer in Radolfzell, sind Sie ein bisschen nervös?
Sehr. Ich war vergangenes Jahr als Gast dabei. Es war beeindruckend durch die Straßen zu ziehen, wo Leute zuschauen und sich vielleicht wundern, was durch die Straße getragen wird. Jetzt merke ich, ich trage eine andere Verantwortung.
Können Sie verstehen, dass viele Gläubige im Moment mir Ihrer Kirche hadern?
Ja, das kann ich verstehen. Das ist das, was ich mit dem redlichen Blick in die Geschichte meine. Das gab es immer. Menschen, die Leitung wahrnehmen, treffen Entscheidungen, die entweder gut sind oder schlecht. Zu denen schaut man auf und klopft ab, ob das Reden und Tun zusammenpasst. Da haben wir im Moment ein Problem in der Glaubwürdigkeit unserer Kirche. Ich komme da auch an meine Grenzen. Für mich ist wichtig zu sagen: Ich gebe es nicht auf. Ich möchte in dieser Kirche leben und das Meine tun.
Haben Sie Erfahrungen mit Macht und deren Missbrauch in der Kirche machen müssen?
So wie ich aufgewachsen bin nicht. Ich habe eine gute Kirchengemeinde erlebt. Das hat mich geprägt. Worauf ich in meiner Ausbildung allergisch reagiert habe, wenn jemand mir versicherte zu wissen, was gut für mich ist.
Was machen Sie als Verantwortlicher in der Seelsorgeeinheit Radolfzell, um Missbrauch in der Jugendarbeit vorzubeugen?
Unsere Diözese hat viel investiert an Aus- und Weiterbildung. Wir wollen, dass unsere Orte der kirchlichen Jugendarbeit sichere Orte sind. Es werden alle geschult, alle weitergebildet in der Präventionsarbeit. Das ist eine Sache, die die Kirche sehr ernst nimmt. Bevor es auf ein Ferienlager geht, müssen alle, die eine leitende Funktion haben, ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Jede Gemeinde braucht ein klares Regelwerk. Und jedes Kind und jeder Jugendliche muss wissen, wenn etwas komisch ist oder es sich unsicher fühlt, da kann ich anrufen und da mich hinwenden.
Das ist klar geregelt?
Das ist klar geregelt.
Sie waren bei den Pfadfindern. Wenn Sie das mit heute vergleichen: War man früher sicherer – oder war das nur der Schein?
Ich war früher Kind und kann das schwer mit heute vergleichen. Es war auf jeden Fall ungezwungener. Seit 2010 merke ich bei mir, ich gehe nicht mehr auf Freizeiten. Die Aufdeckung der Missbrauchsskandale in der Kirche waren für mich eine richtige Erschütterung. Mich beschlich das Gefühl, irgendwie stehst du ständig unter einem Generalverdacht. Das hat vieles an ungezwungenem Umgang genommen. Im lockeren Umgang lagen aber auch die Gefahren. Da sind wir noch dabei zu lernen. Wir müssen die Kinder und Jugendlichen stärken.
Kommen wir zu einem anderen Krisenthema: Wo ist der Kirchenbesuch besser – in ihrer früheren Station Waldkirch oder in Radolfzell?
Ich zähle die Besucher der Gottesdienste nicht. Aber ich würde sagen, in Radolfzell ist er besser. Aber man muss feststellen: Die Zahl derer, deren innere Uhr auf die Gottesdienste am Sonntag eingestellt ist, die nimmt ab.
Erzbischof Burger hat als eine Reaktion auf diese Entwicklung die Vergrößerung der Seelsorgeeinheiten als eine Lösung skizziert. Was bedeutet das für Radolfzell – kommt die Höri noch dazu?
Da laufen gerade die Gespräche mit der Frage: Wie sieht eine solche Raumschaft nachher aus? Es gibt unterschiedliche Vorstellungen. Das ist ein Prozess. Es werden Pfarrgemeinderäte, der Dekanatsrat, auch die Jugendlichen mit eingeschlossen. Es geht um Gebäude und Einrichtungen. Auch da ist der Blick in die Geschichte heilsam. Wenn wir merken, wir können nicht mehr so weiter existieren in dieser Struktur, dann müssen wir schauen, was ist uns dienlich. An diesem Punkt sind wir.
Ist das nicht die reine Mangelverwaltung – es mangelt an Gläubigen und an Pfarrern?
Wie sieht es aus und was braucht‘s? – Das ist der redliche Blick. Diese Prüfung macht jeder Landwirt, jeder Unternehmer, jede Familie. Aber die Grundbotschaft, die wir tragen, ist nicht Mangel, sondern eine Fülle. Das ist ein Widerspruch, den ich nicht immer zusammenbringe. Es ist eine spannende Zeit. Ich wünsche mir Aufbruchsstimmung. Wenn die Menschen zu viel hadern, wird sich nichts verändern. Wir entscheiden vor Ort viel. Wir halten die Kirchentüren offen. Das Münster und die ganzen Kirchen hier gehören uns allen.
Fragen: Georg Becker