Radolfzell – Es gleicht einer Lawine, die auf Radolfzell und seinen Gemeindehaushalt zukommt. Straßen befinden sich trotz aller Beteuerungen von Gemeinderäten und der Verwaltung stellenweise in einem schlimmen Zustand. Brücken und die Kanalisation weisen Probleme auf. Oberbürgermeister Martin Staab schätzt die Lage so ein, dass seit rund 20 Jahren nicht mehr genügend Geld in den Erhalt von öffentlichen Gebäuden und der Infrastruktur investiert worden ist.
Straßen werden in Zustandsklassen eingeteilt
Völlig überraschend sind die Erkenntnisse nicht. In den Jahren 2012 und 2013 sind alle Straßen in Radolfzell untersucht worden. Grundlage dieser Untersuchung ist die "Empfehlung für das Erhaltungsmanagement von innerörtlichen Straßen". Dabei werden alle gemeindeeigenen Straßen in acht Zustandsklassen eingeordnet. Eine Straße der Klasse 1 gilt als eine Straße in einem sehr guten Zustand, eine Straße der Zustandsklasse acht gilt als unbefahrbar und muss eventuell sogar gesperrt werden. In diesen inzwischen mehr als fünf Jahre alten Untersuchungen wurden Mängel und der Handlungsbedarf neutral aus der Sicht von Straßeningenieuren klassifiziert und der Zustand von Straßen aufgezeigt.
Seit zehn Jahren zu wenig investiert
Diese Untersuchungen haben damals schon aufgezeigt: Bis in das Jahr 2008 hat die Stadt viel zu wenig in den Straßenunterhalt gesteckt, weniger als ein Fünftel der Empfehlung von Straßenbauingenieuren. In Radolfzell besteht also seit zehn Jahren Handlungsbedarf. Die Haushaltsplanung sieht aktuell nur für den Doppelhaushalt 2018/2019 annähernd eine Summe vor, die dem von Fachleuten empfohlenen jährlichen Unterhaltungsaufwand entspricht. Ab 2020 sollen wieder rund 200 000 Euro jährlich bei der Straßeninstandhaltung eingespart werden.
Stadträte wollen Steuererhöhungen vermeiden
Was ist in den vergangenen Jahren passiert? Wie reagiert der Gemeinderat aktuell auf solche Kenntnis? Bernhard Diehl (CDU) bestätigt den Sanierungsstau. Er verweist aber auch auf andere kommunale Aufgaben: "Wichtiger sind für mich Projekte für alle Generationen, etwa die Markolfhalle, Schulen und Kindergärten, Pflegeheime. Diese kommen allen zugute." Norbert Lumbe (SPD) sagt, dass man sich auf Auskünfte der Fachleute in der Verwaltung verlassen müsse. Mehr Geld habe man im Haushalt nicht zu verteilen, sonst wären Steuererhöhungen die Folge. "Steuererhöhungen sind aber ein äußerst unbeliebtes Mittel", sagt Lumbe.
Unterlässt man die Sanierung, wird's teurer
Dabei hat die Verwaltung zwei Probleme gleichzeitig zu lösen, denn neben den benötigten Finanzmitteln fehlt es auch am Personal im Baudezernat. Siegfried Lehmann sieht es so: "Die Tiefbauverwaltung und die Finanzverwaltung hatten 2008 eindrücklich vorgerechnet, dass das Unterlassen einer rechtzeitigen Straßensanierung der Stadt immer teurer kommt, da sonst am Ende anstelle einer Straßendeckenerneuerung ein viel teurerer Straßenkomplettausbau wie bei der Konstanzer Straße erforderlich ist."
Weitere Untersuchungen in kurzen Abständen
Man sei vorgewarnt gewesen. Diese Einschätzung wird von Ronny Biesinger, Geschäftsführer der Firma Kosima, einem Unternehmen, das Straßenbefahrungen vornimmt und den Kommunen kostenorientiertes Infrastrukturmangement anbietet, bestätigt. "Wenn eine Straße erst einmal die Zustandsklasse sieben erreicht hat, sollte man nach fünf Jahren noch einmal sehr genau untersuchen. Die Kosten für die Sanierung werden dann immer höher."
Zum Böhlerberg ist immer noch nicht saniert
Indirekt bestätigt aber Uwe Negraßus, Fachbereichsleiter beim Baudezernat, genau diese verzögernde und hinausschiebende Vorgehensweise in Radolfzell. Bei der Ortschaftsratssitzung in Stahringen führt Negraßus aus, dass in neun Jahren die Straße Zum Böhlerberg saniert werden soll, eine Straße, die schon vor sechs Jahren mit der Zustandsklasse 7 bewertet worden ist. Zwischen Feststellung eines schlechten Zustandes bis zur Sanierung vergehen so 15 Jahre.
In Liggeringen hat man sich geschickt beholfen
Hermann Leiz, Ortsvorsteher in Liggeringen, fand für seine Ortschaft eine andere Lösung. "Durch den Ausbau zum Solarenergie-Dorf gab es die einmalige Chance, auch die Straßen in Liggeringen instand zu setzen", schildert Leiz seine Überlegungen, hier einen Synergieeffekt zu nutzen, weil das Geld aus anderen Töpfen kommt. "Das Geld ist knapp und wird durch den Bau von Luftschlössern auch nicht mehr", sagt Jürgen Keck (FDP). Genauer möchte sich kaum jemand äußern. Dietmar Baumgartner (Freie Wähler) sagt: "Wer am lautesten schreit, bekommt zuerst."
Öffentliche Ausgaben steigen
Wenn die Ausgaben für den Erhalt von Schulen, Brücken und Straßen steigen, steigen im Rahmen des neuen kommunalen Haushaltsrechts aber auch die Abschreibungen, die den Finanzhaushalt künftig zusätzlich belasten. Es ist eine Kostenfalle. Manfred Brunner (FDP) sagt dazu: "Es gibt viel, worüber wir nachdenken und Lösungen suchen müssen." Der Handlungsdruck in Radolfzell ist groß.
Zu den Kosten
Um den Investitionsanstau bei den gemeindeeigenen Straßen mittelfristig abzubauen, wäre jährlich ein Betrag von rund 1,2 Millionen Euro aufzuwenden. In vier Jahren sollen die Finanzmittel wieder deutlich heruntergeschraubt werden. Im Jahr 2022 sind für die Instandsetzungen nur rund eine Million Euro vorgesehen. Im Jahr 2023 sollen es nach jetziger Planung dann nur noch 700 000 Euro sein. Auch im Jahr 2024 liegt man in der Planung weiter deutlich unter den erforderlichen 1,2 Mio Euro. Für die Instandhaltungen sollen 858 000 Euro aufgewendet werden. Wie so der Sanierungsstau abgebaut werden soll, ist den Stadträten noch nicht klar.