Pilgerfahrten spielten im Leben frommer Menschen eine kaum zu unterschätzende Rolle. Oft waren sie im Mittelalter oder im Barock der einzige Anlass zu reisen. Als sichtbares Zeichen brachten Pilger eine Plakette von ihrer Wallfahrt mit. Dass Radolfzell ein bedeutender Wallfahrtsort war, ist meist nur Einheimischen bekannt.
Das Radolfzeller Hausherrenfest und die Mooser Wasserprozession erinnern an diesen Status im Leben eines Christen. Nun tauchte plötzlich ein Kleinod auf, das diesen Status wiederbelebt. Ein Mitglied des Fördervereins Museum und Stadtgeschichte entdeckte 2019 auf einem Versteigerungsportal das bisher einzig bekannte Pilgerzeichen aus Radolfzell. Der Förderverein erwarb die Pilgerplakette und übergab sie kurz vor dem Hausherrenfest dem Stadtmuseum als Dauerleihgabe.
Im Beisein von OB Simon Gröger und Stadtpfarrer Heinz Vogel überreichte der Präsident des Fördervereins, Reinhard Rabanser, dem Leiter des Stadtmuseums den Sensationsfund. Denn das Pilgerzeichen ist die bisher erste bekanntgewordene Plakette der Bodenseestadt als Wallfahrtsort. Der Vorsitzende des Fördervereins Museum und Stadtgeschichte, Rudolf Grätsch, brachte den seltenen Fund in einen historischen Kontext.
Material der Plakette muss noch untersucht werden
Bei Pilgerzeichen bekannter Wallfahrtsorte handelt es sich überwiegend um Blei-Zinn-Güsse. Aus welchem Material die Radolfzeller Wallfahrt-Plakette bestehe, müssten noch Untersuchungen zeigen. Die Pilgerzeichen wurden an Kleidungen des Pilgers angebracht oder an Altären und Heiligenfiguren gestellt. Dass es sich bei Pilgerzeichen um ein Massenprodukt am Ende des Mittelalters handelt, werde am Beispiel des Wallfahrtsorts Einsiedeln deutlich, so Rudolf Grätsch: Allein dort wurden im Jahr 1466 innerhalb von zwei Wochen 130.000 Pilgerzeichen verkauft.

Dass es sich beim Radolfzeller Pilgerzeichen um das erste bekannte Exemplar handelt, verwundert auch den Leiter des Stadtmuseums, Rüdiger Specht: „Eigentlich müsste es Tausende davon gegeben haben“, sagt er. Die Authentizität des Pilgerzeichens steht für ihn nicht in Frage. Die Prägung verweist deutlich auf Radolfzell als Wallfahrtsort. Auf der Madonnenseite sind die Namen der drei heiligen Hausherren vermerkt. Auf der anderen Seite ist ein Schrein abgebildet mit der Inschrift über die Reliquien der heiligen Hausherren der Cella Ratoldi.
Auf der Madonnenseite der Plakette thront die Muttergottes im Himmel, zu ihren Füßen die drei Hausherren. Die Rückseite ist zentral geschmückt vom Hausherrenschrein. Ihm zu Füßen kniet der Gründer der Bodenseestadt. Das Besondere an der Darstellung des Schreins sind die Putten, die ihn fliegend tragen. Sie sind ein Hinweis darauf, dass die Plakette aus der Zeit des Barocks stammt. Die Darstellungen der Vorder- und Rückseite erinnert stark an ein Ölgemälde aus dieser Epoche und an das Hausherren-Büchlein, die im Museum ausgestellt werden.
Museumsleiter Specht interessiert vor allem, in welchem Zusammenhang die Plakette geprägt wurde. Der Ort der Prägung müsse dabei nicht unbedingt Radolfzell gewesen sein. Es könnte ein dafür spezialisierter Betrieb gewesen sein, der auch Pilgerzeichen für andere Wallfahrtsorte prägte, so Specht. Für OB Simon Gröger ist die Pilgerplakette ein Zeitzeugnis.
Die Plakette löste bei ihm eine Kaskade an Fragen aus: Wie wurde sie angefertigt? Welche Motive sind im Detail zu sehen? Was war den Menschen damals wichtig? Lassen sich anhand der Plakette wichtige Informationen zum damaligen Zeitgeist ablesen? Und was bewegte den Pilger, nach Radolfzell zu kommen und sich auf diese besondere Wallfahrt zu begeben?

Das Pilgerzeichen erinnert Stadtpfarrer Heinz Vogel an diejenigen Menschen, die aufbrechen und Ziele haben. Das verbinde Pilger auch mit den Menschen der Gegenwart. Angesichts damaliger Unwetterkatastrophen, Kriege und Hungersnöte sowie jenseits der Lebens- und Krankenversicherungen der Neuzeit hätten Pilger kaum etwas gehabt, woran sie sich festhalten konnten. Die Pilgerplaketten hätten ein Hoffnungszeichen gegeben, so Vogel: dass es mehr als dieses brüchige und dramatische Leben gebe.