Es war Sommer und es war heiß, abends auf dem Gerberplatz. Aus reiner Gewohnheit traf man sich nach der Schließung des Szene-Lokals Leierkasten am 30. Juni 1980 weite vor der Stadtmauer. Damals gab es noch mehr Verkehr zwischen Löwengasse und dem großen Parkplatz hinter der Schützentorschule. Ohne eine offene Kneipe war der Platz nicht wirklich verlockend. Also zog die Clique um. Auf den Untertorplatz vor dem stillgelegten Feuerwehrgerätehaus. Teile der alten Leierkasten-Szene und „Freaks“ aus der Wohngemeinschaft Bismarckstraße fanden sich dort ein, redeten, hörten Musik. Klaus Dürschlag und Hubert Blum gehörten dazu.

Es habe in der Luft gelegen, „dass wir da auch ins Feuerwehrgerätehaus reingehen“, beschreiben die beiden die abendlichen Szenen. Doch es brauchte einen, der das Ganze anstieß. Am Samstagnachmittag seien sie am Mindelsee gelegen, da habe Otmar Hanser, ein damals bekennender „Linker“, das Wort ergriffen: „Das ist doch Kinderkram, was Ihr da macht. Lasst uns die Tür aufmachen. Sind wir drin, haben wir ein Jugendzentrum“, gibt Hubert Blum die Mindelsee-Rede von Otmar Hanser wieder. Am Abend seien sie zur Tat geschritten. „Wir waren die Türöffner ins Feuerwehrgerätehaus, wir sind bis zum letzten Tag geblieben.“
Der Eintritt gelang, am Tag zwei folgte die politische Mobilisierung. Die Jungs der Tat marschierten hundert Meter weiter in die Alte Forstei, dem damaligen Haus der Jugend. Dort hatte die Jugendzentrumsinitiative (JZI) ein Büro, die Mitglieder hatten gerade Sitzung. „Wir sind reingelatscht, während sie sich gerade mit einem Bettelbrief an den Gemeinderat beschäftigten.“ Von wegen Jugendzentrum in Selbstverwaltung und so. Seit acht Jahren kämpfte die Initiative darum, sich Gehör beim OB und im Gemeinderat zu verschaffen. Otmar Hanser habe die Aktivisten wachgerüttelt: „Kinder, was macht Ihr da für einen Nonsens, lasst das, klappt den Ordner zu, unterstützt uns und kommt ins Feuerwehrgerätehaus.“
Gefühl der Euphorie
Die Aktiven der Jugendzentrumsinitiative hätten sich zuerst in zwei Fraktionen aufgeteilt: „In Unterstützer und Bedenkenträger“, grinst Hubert Blum. Nachdem die ersten mit ins Feuerwehrgerätehaus gekommen waren und gesehen hätten, welche Chancen die Räumlichkeiten geboten hätten, seien die anderen nach und nach gefolgt. Für die Besetzung sei das von großer Bedeutung gewesen, denn nach der Solidarisierung der JZI hätten sich mehr und mehr „nichtorganisierte Jugendliche“ angeschlossen. „Es kamen Schüler, Lehrlinge, Arbeitslose – erst dann hat sich eine Breitenwirkung entfaltet.“ Hubert Blum berichtet von einer gewissen Euphorie: „Es war ein cooles Gefühl, wir wurden von einer wachsenden Welle getragen.“
Das bestätigt Klaus Dürschlag, der damals zur WG in der Bismarckstraße gehörte: „Wir waren verrufen.“ Es war damals die einzig bekannte WG in Radolfzell. Mit dieser Art zu leben, waren damals vor allem diese Vorurteile verbunden: „Die WG ist mit Gammlern und Drogenhöhle gleichgesetzt worden“, sagt Dürschlag. Mit ihrem Einsatz für das besetzte Feuerwehrgerätehaus bekamen die „Freaks“ Anerkennung, Aufmunterung und Unterstützung. „Da hat jemand ein Sofa gebracht, damit wir nicht auf dem harten Boden hocken mussten“, erinnert sich Dürschlag. Fast jeden Morgen seien Frauen gekommen, hätten Brötchen, Marmelade und Kaffee gebracht. „Die Mütter standen hinter uns“, glaubt Klaus Dürschlag heute.
Ein Riss ging durch Familien
Wenigstens die Mütter. Bei den Vätern sah es in Teilen anders aus. Mit zunehmender Dauer wurde es offensichtlich. „Der Riss ging mitten durch die Familien“, beschreibt Hubert Blum die Lage bei manchen Besetzern. Etwa bei Otmar Hanser, dessen Vater Egbert Hanser Leiter der Stadtwerke war. Und für diese Stadtwerke sollte auf diesem Gelände ein neues Verwaltungsgebäude errichtet werden. Entgegengesetztere Positionen konnte es in dieser Auseinandersetzung kaum geben.
Das Klima wird frostiger
Diese Konfliktlinien traten im Laufe der Besetzung immer deutlicher zutage. Anfangs konnten die jugendlichen Besetzer auf eine große öffentliche Unterstützung setzen. Hubert Blum, damals in der Ausbildung zum Elektriker, durfte bei einer Nachbarin Strom für das von der Versorgung abgehängte Feuerwehrgerätehaus abzapfen, sein Meister stellte ihm einen Baustromverteiler „mit einem gewissen Wohlwollen für die Sache“ zur Verfügung. Das Verständnis für die jungen Leute, die ein eigenes Haus für ihre Bedürfnisse und ihre Veranstaltungen wollten, war da. Viele fanden auch, dass das denkmalgeschützte Gebäude dafür geeignet war. Doch mit der Zeit wurde das Klima frostiger, Oberbürgermeister Günter Neurohr forderte den Auszug der Besetzer, Nachbarn kritisierten Lärm und Unrat rund ums Feuerwehrgerätehaus.

Als dann der Konstanzer Kripochef Rainer Magulski im Feuerwehrgerätehaus erschien und den Besetzern eröffnet hatte, dass die Räumung angeordnet sei, war allen klar: „Lange geht es nicht mehr“. Magulski sei äußerst höflich und zuvorkommend gewesen. „Er hat uns darum gebeten, keinen aktiven Widerstand zu leisten.“ Der Polizist sei „fair und sympathisch“ gewesen. Natürlich habe es hinterher Diskussionen gegeben. Die einen sprachen von „Bullengeschwätz“ und wollten sich wehren, die große Mehrheit hatte Magulski überzeugt. „Ich selbst habe zu den Beschwichtigern gehört“, sagt Hubert Blum. Es kam zu keinem „revolutionären Exempel“, bei der Räumung am Morgen des 31. Juli wurden alle friedlich aus dem Gebäude und in einen abgeschirmten „Pferch“ getragen.

Hubert Blum war vom ersten bis zum letzten Tag im Feuerwehrgerätehaus, Klaus Dürschlag ausgerechnet in der letzten Nacht nicht: „Ich habe blöderweise gedacht, ich muss daheim mal wieder richtig ausschlafen.“ Die Räumung konnten beide noch hinnehmen, der unmittelbare Abriss des denkmalgeschützten Feuerwehrgerätehauses nach der Räumung war aber eine schwere Enttäuschung. Hubert Blum fasst es so zusammen: „Für mich persönlich war dies ein Stück weit der Abschied von meiner Jugend. Ich habe mein Glück nicht mehr im öffentlichen Raum gesucht, sondern meine Energie in meine private Zukunft gelenkt.“
Gegenprotest der Nachbarn
- Zur Serie „Das besetzte Feuerwehrgerätehaus“: Gerne hätten wir zu diesem zweiten Teil aus der persönlichen Sicht zweier Besetzer auch Otmar Hanser befragt. Er hat nach dieser Rekonstruktion eine entscheidende Rolle zu Beginn der Besetzung gespielt. Leider konnten wir keinen Kontakt zu ihm nach Südamerika aufbauen. In den weiteren Folgen planen wir, die Entwicklungen im Rathaus Radolfzell im Sommer 1980 zu skizzieren und die Reaktionen in der Öffentlichkeit zu dokumentieren. Auch Rainer Magulski, Einsatzleiter der Polizei, wollen wir zu Wort kommen lassen. Zudem soll die weibliche Sicht auf die Besetzung – Schülerinnen und junge Frauen waren aktiv beteiligt – aufgearbeitet werden.
- Zum Protest der Nachbarn: Heute noch sind nicht alle Wunden der Besetzung des Feuerwehrgerätehauses im Juli 1980 vernarbt. Nach der Veröffentlichung des ersten Teils meldete sich eine ehemalige Nachbarin des Untertorplatzes und beklagte die „glorifizierende Darstellung“ des Geschehens. Damals erhob sich Kritik aus der Nachbarschaft an den Zuständen im besetzten Feuerwehrhaus, in dem sich an manchen Tagen zwischen 200 und 300 Jugendliche und junge Erwachsene trafen. In einem Leserbrief hieß es: „Es werden in erheblichen Mengen Bierkästen angefahren, und aufmerksame Besucher sehen in den Händen Minderjähriger eben nicht nur Milchtüten. Trotz der verstärkten Anstrengungen der Besonnenen kommt es laufend zu Belästigungen und Sachbeschädigungen.“ Auch die Nachbarn hingen Transparente auf. In Richtung Besetzer forderten sie die Einhaltung eines gemäßigten Lärmpegels : „Für kinderfreundliche Lautstärke auf diesem Platz! Nachtruhe für Babys!“ (bec)