Die eigene Bude war keine wirkliche Alternative. Neben Bett und Tisch machte die Stereoanlage das Zimmer eng. Oft teilte man es sich noch mit Schwester oder Bruder. Mehr als eine Freundin oder ein Kumpel passten nicht rein. Laute Musik ging Vater, Mutter, Nachbarn auf die Nerven, aber wer wollte Frank Zappa, The Doors oder Pink Floyd schon leise hören. Tagsüber ging‘s an den See, abends in den Leierkasten. Doch dann der Schock. Wirt Helmut Treubel schloss das Szenelokal in der Löwengasse zum 30. Juni 1980. Die Stadt wollte ihm das desolate Gebäude nicht verkaufen, damit er es für eine Nutzung hätte sanieren können.
Die Party nach der Ära Leierkasten
Am Leierkasten hing ein Plakat: „Wir müssen was anleiern. Wenn der Leierkasten schließt, haben wir keinen Jugendtreff mehr. Wo sollen wir uns dann treffen? Ein Platz für uns!“ Schon am nächsten Tag besetzten erste Jugendliche den Platz vor dem leer stehenden Feuerwehrgerätehaus in einer Art Happening. Sie schleppten ein altes Sofa auf das Gelände und brachten ein erstes Stoffbanner an. Darauf stand die Parole: „Für ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung.“ Der SÜDKURIER berichtete über einen jungen Musiker, der das Lied „The house of the rising sun“ auf die aktuelle Situation angepasst habe. Er sang: „Es steht ein Haus in Radolfzell, für Parkplätze reißt die Stadt es ab, erst der Kampf auf der Straße macht uns stark, erst dann gibt es ein Haus für uns.“
Das alte Feuerwehrgerätehaus hatten Stadtverwaltung und Gemeinderat in der Tat nicht für die Jugend, schon gar nicht für eine „freie Jugend“ vorgesehen. Einen Jugendtreff überlegte man an den Rand der Stadt zu setzen. Dagegen plante die Verwaltung die Vergrößerung der Stadtwerke.

Nach dem Auszug der Feuerwehr aus der Innenstadt sollte ein Verwaltungsgebäude der Stadtwerke neben dem Betriebsgebäude auf dem Untertorplatz errichtet werden. Unter einer Voraussetzung hatte der Gemeinderat diese Nutzung im April 1980 beschlossen: „Erhalt und Restaurierung des Dachs und der Fassade des alten Feuerwehrgerätehauses.“ Zuvor hatte das Landesdenkmalamt das Bauwerk als Kulturdenkmal eingestuft.
Die Jugend richtet sich häuslich ein
Die Jugendlichen in Radolfzell merkten, dass mit ihren Anliegen in der Stadtverwaltung und im Gemeinderat nicht allzu ernst umgegangen worden war. In der Nacht vom 12. auf 13. Juli war Schluss mit reinem Happening auf dem Untertorplatz, die Jugendlichen besetzten das alte Feuerwehrgerätehaus und richteten sich „häuslich“ ein, wie der SÜDKURIER in der darauf folgenden Montagsausgabe berichtete. Bis zu 300 Jugendliche hätten sich bei einem „Sit in für ein Jugendzentrum“ beteiligt. Ein Satz war dem Redakteur wichtig: „Die Teilnehmer kamen übrigens vorwiegend aus Radolfzell.“
Wie eine Mauer stehen die Jugendlichen um das Spritzenhaus
Die Jugendlichen selbst machten mit einem Flugblatt auf ihr Anliegen aufmerksam: „Das Feuerwehrgerätehaus ist besetzt.“ Sie forderten ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung. Im Gerätehaus spielte am Samstag, 12. Juli, die Gruppe Rotglut. Gegen 21 Uhr sei das Gerücht aufgekommen, dass Feuerwehr und Technisches Hilfswerk zusammen mit der Polizei das Haus räumen wollten. „Wie ein dichte Mauer standen die Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt um das alte Spritzenhaus„, berichtete der Reporter. Doch die befürchtete Aktion habe nicht stattgefunden. Danach organisierten die Jugendlichen eine Wache rund um die Uhr.
Musik, Diskussionen und Aktionen, ja selbst ein Tag der offenen Tür belebten die Juli-Tage 1980 im Feuerwehrgerätehaus. Erst das zweite Ultimatum der Stadt Radolfzell bereitete den anfänglich heiteren Besetzungstagen ein Ende. Die Polizei trug die Besetzer am 31. Juli um 5.30 Uhr aus dem Feuerwehrgerätehaus. Die Stadt ließ sofort das ganze Gebäude schleifen, der Denkmalschutz war ihr egal. Die versuchte Revolution der Jugendlichen in diesem Haus lag in Trümmern, ein letzter Demonstrationszug an diesem letzten Tag im Juli 1980 zog durch Radolfzell.
Die Tage der Besetzung
- Zur Serie: In loser Reihenfolge wollen wir das Thema „Das besetzte Feuerwehrhaus“ aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Wir fragen bei Beteiligten nach, wie sich das Geschehen im Juli 1980 entwickelte. Wir sprechen mit ehemaligen Besetzern, über die Konfrontation mit Stadt und Polizei und ihrem Blick heute auf die Jugend und die Stadt Radolfzell. Wir sprechen mit Stadträten, die damals an den Entscheidungen beteiligt waren. Wir versuchen zu klären, ob heute der Abriss eines denkmalgeschützten Gebäudes in öffentlicher Hand so einfach wie damals und ohne Folgen möglich wäre.
- Die ersten Besetzungstage: Schon am Montagmorgen rückte ein erstes Abrisskommando an, doch etwa 40 Jugendliche im Feuerwehrhaus verhinderten das Arbeiten. Die Polizei entschloss sich vorerst, das Haus nicht gewaltsam zu stürmen. Immer mehr Jugendliche kamen in das Feuerwehrgerätehaus. Die Nachbarn spendete Brötchen und Marmelade. Bürgermeister Franz Schanz forderte in zwei Diskussionsrunden die Jugendlichen vergeblich mehrmals auf, das Spritzenhaus zu verlasen. Eine Malergruppe strich die Wände, eine Kittgruppe spachtelte Risse in den Wänden. Die Parole lautete: „Falls die Arbeiten von der Polizei unterbrochen werden, gilt: immer mit der Ruhe, keine Gewalt, keine Gegenwehr, wir setzen uns auf den Boden und singen Lieder, bis die uns raustragen.“