Es war heiß an diesem Sonntag im Juni 1976. Der Dresscode war ein weißes Hemd. Treffpunkt Kaserne. „Wir spielen gegen die Franzosen“, hatte Manfred Rihm am Tag zuvor im Strandbad ein paar Spieler zusammengetrommelt.

Er ging gezielt vor: Sie sollten Handballspielen können und im Leierkasten kein unbekanntes Gesicht sein. Das hört sich heute schwieriger an, als es 1976 war. Spieler der A-Jugend und die jungen Aktiven der damaligen Handballabteilung des FC Radolfzell verkehrten regelmäßig, einige fast täglich im Szene- und Jugendlokal Leierkasten in der Löwengasse 22. „Wir waren nach dem Training meist noch dort“, erinnert sich Torhüter Andreas Kressibuch.

Also war es Ehrensache für den Leierkasten aufzulaufen. Zumal das Spiel am 27. Juni 1976 einen höchst offiziellen Anstrich hatte. Marc Sciré, Offizier im Régiment Piemont und Stammgast im Lokal, hatte mit Leierkasten-Wirt Hans-Joachim „Hotte“ Schiller ein Handballspiel zwischen einer französischen Militärauswahl und einer Leierkastenmannschaft als festen Programmpunkt am Tag der offenen Tür in der Vauban-Kaserne ausgemacht.

Dementsprechend zackig ging es vor Anpfiff zu. Die langhaarigen Leierkasten-Spieler hatten Mühe mit dem militärischen Gruß, gaben Colonel Jules Belgodére betont lässig die Hand, auch wenn dieser bei der Zeremonie seine Lederhandschuhe nicht auszog.
Herb war auch das Spielfeld. Risse und Löcher auf dem betonierten Exerzierplatz im Freien sagten den verwöhnten Hallenhandballern aus dem Leierkasten nur bedingt zu. Dennoch setzten sie sich am Ende durch. Ob es nun 14:11 oder 14:13 ausging, das ist 43 Jahre später beim Wiederherstellen des Mannschaftsbilds nicht mehr zu klären.
Ein Pokal für den Leierkasten
Eindeutig durch fotografisches Material belegbar ist das gewonnene Spiel. Colonel Belgodére überreichte hinterher im Offizierskasino Kapitän und Wirt Hotte einen kleinen Pokal – dieses Mal ohne Handschuhe.

Der Colonel unterhielt sich mit den Leierkasten-Spielern bei einem Glas Champagner und zeigte sich dabei durchaus im Bilde. Er wusste, „der Leierkasten ist ein Treffpunkt für junge Leut‘“. Die Niederlage musste der Standortkommandant gut verschmerzt haben.
Die Fotos von der Mannschaftsaufstellung und der Pokalübergabe versah Jules Belgodére mit der Widmung: „In herzlicher Erinnerung an das Regiment Piemont und an den Tag der offenen Tür am 27. Juni 1976“.

In herzlicher, inniger, vielleicht auch wehmütiger Erinnerung haben viele älter gewordene Radolfzeller „ihren“ Leierkasten behalten. Er war zwischen seiner Eröffnung am 6. Dezember 1969 und seiner Schließung am 30. Juni 1980 für viele zur ersten Anlaufstelle in der Freizeit, für manche fast so etwas wie zur zweiten Bude in der Stadt geworden.
„Zwanglos“ ist vielleicht die beste Beschreibung für ein Lokal, das seinen Gästen auf knapp 50 Quadratmetern so gut wie keine Vorschriften machte. Es gab keinen Zwang, etwas zu trinken. Es gab keinen Zwang, sich formvollendet zu benehmen.

Diese Grundidee des ersten Wirts sollte sich bis ans Ende der Leierkastenzeit hinüberretten. Tilmann Steinhilber beschreibt seine Philosophie: „Ich hatte nichts dagegen, wenn die Gäste ihre Füße auf den alten Sofas und Stühlen aufstellten, ich wollte es leger, ich wollte eine andere Atmosphäre, als sie viele zu Hause hatten.“
Vor dem Medizinstudium Wirt
Steinhilber machte als gerade 21 Jahre alt gewordener junger Mann den Leierkasten auf. Ein paar Dinge seien damals zusammengekommen. Als Schüler sei er jeden Morgen an der damaligen Weinstube Langenbach in der Löwengasse vorbeigelaufen. Und immer habe er sich gedacht: „Da will ich auch einmal Wein trinken.“ 1969 hatte er das Abitur in der Tasche, weil er aber Medizin studieren wollte, musste er warten.
Wie die Zeit überbrücken? „Wir konnten zum Flippern in die Untere Eisdiele oder in Knuts Pinte, manchmal sind wir auch nach Konstanz in den Hades gegangen“, zählt Steinhilber die Möglichkeiten in Radolfzell auf. Er habe sich gesagt: „Das gibt es doch nicht, dass es für die Jungen nichts gibt.“ Dann habe er gehört, das Haus mit der mittlerweile geschlossenen Weinstube Langenbach gehöre der Stadt.
Leierkasten sollte eigentlich ein kurzes Projekt werden
Der Plan war gefasst: „Also bin ich zu Bürgermeister Fritz Riester und hab‘ ihn gefragt, ob wir die Weinstube für ein Jugendlokal bekommen könnten.“ Riester habe zu seiner Überraschung Gefallen an der Idee gehabt. „Er hat mir gesagt: Wissen Sie was, ich helfe Ihnen.“
Die Stadt vermietete an Steinhilber die Löwengasse 22 für 30 Mark. Die Idee zum Namen „Leierkasten“ brachte Steinhilber aus Berlin mit. Georg Steinbach malte ein Schild, das über dem Eingang hing. „Eigentlich war die Sache ja nur für drei Monate gedacht“, berichtet heute der erste Leierkastenwirt.
Steinhilber ging nach einem Jahr Wirtszeit zum Studium nach Freiburg und schaute nur an den Wochenenden vorbei. Er machte eine Radolfzeller Karriere: Schulsprecher im Gymnasium, Leierkastenwirt, Arzt. Hotte Schiller hat in seiner Leierkastenzeit seine Geschäftstüchtigkeit geübt und hat sich nach dem BWL-Studium in der Automobilzulieferbranche selbstständig gemacht.
Szene-Treff mit einem guten Ruf
Was für die Wirte galt, gilt auch für die Gäste. Ein regelmäßiger Besuch des Leierkastens musste sich langfristig nicht zwangsläufig negativ auf den Lebenslauf auswirken. Trotz lauter Musik, trotz einiger Partys. Die Leierkasten-Handballer haben sich nicht zweimal bitten lassen für ein Nachherbild zum Vorherbild.
Selbst wenn sie heute weiter weg wohnen, leben und arbeiten wie Andreas Kressibuch in München oder Thomas Luible in Rheinhessen, für ein zweites Foto kommen sie gerne angefahren. Bis auf den Haarschnitt wirken sie kaum verändert. Was halt 43 Jahre mit einem so machen.
Wer alles am Tresen stand – von Tilmann Steinhilber bis Helmut Treubel
- Die Wirte im Leierkasten: Tilmann Steinhilber eröffnete mit Schulfreunden vom Gymnasium am 7. Dezember 1969 den Leierkasten in der Löwengasse 22 in Radolfzell. Ein Jahr später stand Roland Löbnau aus Singen am Tresen des Szenelokals, bevor 1971 Hotte Schiller, Helmut Bürgel, Wolfgang Schmidt, Bernd Lupfer und Jürgen Messmer gemeinsam den Leierkasten übernahmen. 1973 war es dann ein Trio – Kurt Graf und Gerhard Hehl unterstützten Hotte Schiller. 1976 übernahm Kurt Graf alleine den Leierkasten, bevor er 1977 das Lokal an Helmut Treubel übergab. Treubel schloss am 30. Juni 1980 die Tür dann endgültig zu.
- Die Jugend und der Leierkasten: Es gab durch die ersten Wirte einen engen Bezug zum Gymnasium. In der Schülerzeitung „Heulboje“ warb das Lokal mit niedrigen Preisen und dem Hinweis: kein Konsumzwang. Auch über 16-Jährige von der Berufsschule und des Internats Gaienhofen nutzten den Leierkasten als Treff. In Ferien und an Wochenenden kamen die Studenten auf Heimatbesuch ins Lokal. Obwohl von manchen Eltern vermutet, waren Drogen kein Thema. Alle Wirte achteten darauf, dass im Lokal nicht gedealt wurde oder Gäste angesprochen wurden.
- Die Ära Helmut Treubel: In den letzten drei Jahren war der Leierkasten mehr als ein Lokal, Wirt Helmut Treubel verstand sich als Veranstalter und wenn man so will auch als Jugendsozialarbeiter. Er organisierte Grümpelturniere, gründete den Schachklub Leierkasten und richtete im Hinterhof eine Leierkasten-Tischtennismeisterschaft aus.
- 50 Jahre Leierkasten: Am 7. Dezember 2019 soll eine Erinnerungsparty an die Gründung des Leierkastens steigen. Hotte Schiller sammelt für diesen Anlass Anschriften von früheren Stammgästen unter seiner E-Mail-Adresse: schiller.rzell@gmail.com.