Isabelle Frei mag das Wort Systemsprenger nicht. Bekannt wurde der Begriff durch den gleichnamigen Film aus dem Jahr 2019, in dem es um ein 14-jähriges Mädchen geht, welches durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe zu fallen droht. Misshandlungen in der Kindheit führten bei der Protagonistin zu unkontrollierten Wutausbrüchen, jeder schien mit dem Mädchen überfordert zu sein.

Was im Film dargestellt wurde, kennt Isabelle Frei aus ihrem beruflichen Alltag in der Jugendhilfeeinrichtung in Radolfzell. Sie betrachtet dieses Thema anders. „Es sind nicht die Kinder, die das Problem sind, sondern das System“, sagt die Leiterin der Einrichtung des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland (CJD) der Standorte Radolfzell und Steißlingen.

Jedes Kind bekommt eine Rund-um-die-Uhr-Einzelbetreuung

Und um dieses System an die besonderen Bedürfnisse der Kinder anzupassen, die in dem bestehenden Angebot nicht die richtige Hilfe bekommen, eröffnet das CJD einen dritten Standort in Singen. Hier entsteht Deutschlands erste intensivpädagogische Wohngruppe für Kinder zwischen vier und zwölf Jahren. Das Besondere an der Einrichtung wird der enorm hohe Personalschlüssel sein.

Isabelle Frei, Leiterin der Einrichtungen des CJD in Radolfzell, Steißlingen und bald in Singen.
Isabelle Frei, Leiterin der Einrichtungen des CJD in Radolfzell, Steißlingen und bald in Singen. | Bild: Schneider, Anna-Maria

Für die zwei Plätze, die es dort geben wird, sind beim Jugendamt 5,6 Stellen genehmigt worden. Jedes Kind wird zu jeder Zeit von einer Fachkraft betreut. Zum Vergleich: In den anderen beiden Wohngruppen des CJD sind jeweils sechs Kinder mit zwei Betreuern.

Eine Familie auf Zeit

Die Wohngruppen übernehmen für eine Zeit die Funktion einer Familie, wenn die Kinder aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in ihrer eigenen Familie bleiben können. Diese Gründe können Missbrauch oder psychische Erkrankungen sein. Die Kinder beim CJD eint ein schweres Schicksal. Denn die Inobhutnahme aus der Ursprungsfamilie ist für das Jugendamt noch immer eine der drastischsten Maßnahmen.

Kinder, die für die intensivpädagogische Wohngruppe in Frage kommen, haben diesen Kreislauf bereits häufiger erlebt. Diese Kinder hätten meistens mehrere Einrichtungen und Maßnahmen hinter sich und seien in allen bisher gescheitert. Doch jeder Wechsel der Umgebung, jeder Verlust einer Bezugsperson, verschärfe die Situation noch mehr.

Das könnte Sie auch interessieren

„Wir selbst haben in den vergangenen Jahren zwei Mal eingestehen müssen, dass wir nicht die richtige Einrichtung für ein Kind sind. Und diese zwei Fälle haben mich lange beschäftigt, sie sind mit ein Grund, warum ich diese neue Gruppe konzipiert habe“, erklärt Frei. Der Abbruch einer Maßnahme sei das schlimmste, was einem Kind passieren könne, und die Kinder hätten gleich mehrere dieser Krisen hinter sich.

Personal wird in neuer Wohngruppe stark belastet

Der hohe Personalschlüssel sei zum einen nötig, um den Kindern die notwendige Aufmerksamkeit und Hilfe zukommen zu lassen. Kinder mit solch einer Vergangenheit könnten meistens nicht in einer Gruppe, egal wie klein diese sei, betreut werden. Letztlich würden auch die anderen Kinder unter der enormen Belastung eines solchen Extremfalls leiden.

Zum anderen sorge ausreichend Personal dafür, dass die Betreuer ihre notwendigen Ruhezeiten bekommen und sich von der anspruchsvollen Arbeit mit den Kindern erholen können. „Uns ist das Wohlbefinden unserer Mitarbeitenden genauso wichtig wie das der Kinder“, betont Isabelle Frei. Doch sei die Einrichtung genau wegen des Personalaufwandes besonders teuer, sie habe beim Jugendamt viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um starten zu können.

Start soll schon im September sein

Die Örtlichkeit der Wohngruppe sei bereits gefunden und werde aktuell eingerichtet. Dabei erhält das CJD Unterstützung von der Erika und Werner Messmer-Stiftung sowie örtlichen Handwerkern, damit die dafür angemietete Wohnung in Singen alles hat, was Kinder brauchen. Die Einarbeitung der Mitarbeitenden solle bereits in Kürze beginnen, erstes Personal habe man schon eingestellt.

Das könnte Sie auch interessieren

Die ersten Kinder sollen dann im September folgen. „Wir planen eine vierwöchige Startphase ohne Kinder, sodass Routinen und Abläufe zwischen den Mitarbeitern geklärt und eingespielt sind“, so die Einrichtungsleiterin. Denn je ruhiger und souveräner das Team sei, umso besser das Umfeld für die Kinder.

Intensivbetreuung soll keine Dauerlösung sein

Laut Isabelle Frei sei diese spezielle Form der Intensivbetreuung keine Dauerlösung, solle aber den Kreislauf durchbrechen und die Kinder bereit machen, in andere Betreuungsformen mit einem geringeren Personalaufwand übergehen zu können und dort Stabilität zu finden. In allen Wohngruppen des CJD erhalten die Kinder nicht nur eine Art Ersatzfamilie, sondern gehen in den Kindergarten, besuchen die Schule und erhalten medizinische und therapeutische Behandlung. Dafür arbeite das CJD eng mit dem Jugendamt, ortsansässigen Kinder- und Jugendtherapeuten und der Luisenklinik zusammen.

Zahlreiche Anfragen aus ganz Deutschland

Erste Anfragen für die Plätze gibt es laut Frei schon. Das Jugendamt im Landkreis Konstanz, welches die Kosten tragen wird, hat bereits drei Kinder für die zwei Plätze vorgeschlagen. „Das Interesse ist extrem groß. Von Jugendämtern aus ganz Deutschland haben wir aktuell schon 20 Anfragen“, sagt die Einrichtungsleiterin. Das zeige die Dringlichkeit dieser Angebote. Sie hoffe, dass mehr Träger und Jugendämter versuchen, in der Jugendhilfe neue Wege zu gehen und andere Konzepte zu entwickeln.

Das könnte Sie auch interessieren

Denn laut Isabelle Frei steige der Bedarf an Plätzen in der Jugendhilfe dramatisch an. Seit mehr als 25 Jahren ist sie in dem Bereich tätig. „Früher hatten Kinder in der Jugendhilfe ein, zwei Störungsbilder, heute sind es viel mehr“, sagt sie. Sexuellen Missbrauch habe es früher genauso gegeben, er sei aber viel öfter totgeschwiegen worden. Neue Krankheitsbilder wie die fetale Alkoholspektrumstörung seien erst seit einigen Jahren in den Fokus gerückt.