Diskussionen über das Herabsetzen der Strafmündigkeit führt Theo Rüttinger nicht gerne. „Was will man denn mit einer Bestrafung erreichen?“, fragt er. Die Verhinderung neuer Taten oder Sühne? Die Gründe, warum Jugendliche, oder in seltenen Fällen sogar Kinder, gegen das Gesetz verstoßen, seien andere als bei Erwachsenen.

Und Rüttinger hat alle Gründe bereits gehört. Keine Ausrede, kaum ein Schicksal, das ihm in seinen fast 25 Jahren beim Landratsamt Konstanz nicht schon einmal untergekommen ist. Der 58-Jährige ist Gruppenleiter der Jugendhilfe im Strafverfahren, auch als Jugendgerichtshilfe bekannt. Diese hat ihren Sitz in Radolfzell und Singen und betreut jugendliche Straftäter im gesamten Landkreis, außer der Stadt Konstanz.

Seit 100 Jahren besteht das Jugendgerichtsgesetz

Im Jugendstrafrecht steht das Mindestalter von 14 Jahren geschrieben. So steht es dort seit nun 100 Jahren, mit einer kurzen Ausnahme während des Dritten Reichs. „Ich finde das völlig ausreichend“, sagt Theo Rüttinger. Auch wenn die ganze Republik über das Tötungsdelikt an einer Zwölfjährigen durch zwei Gleichaltrige in Freudenberg diskutiert. Das Jugendstrafrecht, damals vom Reichstag als Jugendgerichtsgesetz (JGG) verabschiedet, sieht er als eine Erfolgsgeschichte. Denn es stehe der Täter und weniger die Tat im Vordergrund. Mit erzieherische Maßnahmen und Hilfsangeboten sollen Jugendliche wieder auf den rechten Weg geführt werden.

Von Ermahnungsgesprächen und Verfahren

Die Auflagen und Strafen für Jugendliche seien vielseitiger als im Erwachsenenstrafrecht, wo es nur Haft oder eine Geldstrafe gebe, wie Rüttinger erklärt. In der ersten Stufe eines Strafverfahrens steht ein Ermahnungsgespräch, welches der 58-Jährige mit dem Jugendlichen und manchmal auch mit den Eltern führt. Und hier kann er erzieherische Maßnahmen bestimmen. Dies ist nicht bei allen Delikten möglich, etwa ein Drittel alles Fälle werde wegen Geringfügigkeit eingestellt, ein Drittel lande im Ermahnungsgespräch und ein Drittel dann vor Gericht in einem Prozess.

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Kommt es zu einer Verhandlung, bestimmt der Richter die Strafen. „Das können Anti-Aggressions-Kurse sein oder regelmäßige Drogenkontrollen oder andere Formen von Sozialtraining“, so Rüttinger. Er lässt die Jugendlichen manchmal Aufsätze über ihre Straftat schreiben. Und einmal, da hat er einen Jugendlichen auch zu einem täglichen Spaziergang verdonnert. „Er hatte nichts wirklich Schlimmes getan, aber ich dachte, die frische Luft sei gut für ihn“, erklärt er.

„Kein Kind wird straffällig geboren“

Theo Rüttinger ist auch nach 25 Jahren nicht abgestumpft. Er sieht jeden Jugendlichen als Einzelfall, zeigt Verständnis, achtet immer auch auf das Umfeld, vor allem die Eltern. Seine Überzeugung: Kein Kind wird straffällig geboren, jeder kann sich auch wieder ändern. Seine Tätigkeit bestehe etwa zu gleichen Teilen aus Ermahnungsverfahren und Gerichtsverfahren.

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Die Vorteile des Ermahnungsverfahrens seien eine schnelle Reaktion auf eine Straftat mit einem erzieherischen Gespräch und Auflagen, welche die Lebensweise des Angeklagten beeinflussen können. Kommt es zu einem Strafverfahren vor Gericht, fertige die Jugendgerichtshilfe eine Sozialanamnese über den Angeklagten an. Das bedeutet, er stellt den Charakter und Werdegang des Jugendlichen und dessen Umfeld vor und schätzt dessen Zukunftsperspektiven ein. Außerdem macht er dem Gericht Vorschläge zu geeigneten Maßnahmen und helfe dabei, die sogenannten schädlichen Neigungen zu bestimmen – also die Frage zu beantworten, ob von dem Angeklagten weitere Straftaten zu erwarten sind.

Mehr als nur ein Wegweiser durch ein Gerichtsverfahren

Oft sei er von den Angeklagten, die er betreuen musste, überrascht worden. Manchmal konnte Rüttinger durch aktives Eingreifen in die Familienstruktur mehr bewirken als nur die Vorbereitung eines Jugendlichen auf einen Prozess. Der 52-Jährige nimmt Anteil, ohne es sich zu nahe gehen zu lassen.

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Wie oft er einen hoffnungslosen Fall hatte? Sehr selten. „Die Jugend von heute ist nicht schlimmer als früher, man erfährt nur mehr von einzelnen Straftaten“, sagt die Jugendgerichtshilfe. Auch seien die Jugendlichen heute nicht reifer, nur weil sie optisch erwachsener aussähen. Was allerdings ein bestätigtes Klischee sei: Der Großteil der Straftäter ist männlich. Viele der Straftaten seien auch typisch männlich, erklärt Rüttinger.

Im Jahr 2021 gab es laut Kriminalstatistik der Jugendhilfe im Strafverfahren (JIG) 113 Fälle von vorsätzlicher Körperverletzung. Davon wurden 92 Fälle von Jungen begangen und 21 Fälle von Mädchen. Schaut man sich die Fälle schwerer vorsätzlicher Körperverletzung an, waren es bei 50 Fällen nur sechs weibliche Täter.

Nur im Betrügen halten die Mädchen mit

Ähnlich sieht es auch bei Drogendelikten, Erpressungen, Raub- oder Verkehrsdelikten aus. Der deutlich größere Anteil der Straftäter ist männlich. Einzig beim Betrügen scheinen die weiblichen Täterinnen mithalten zu können. „Hier haben wir fast immer eine 50/50-Situation“, sagt Theo Rüttinger. Unter Betrug versteht man zum Beispiel Internetbetrug beim Online-Shopping.

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Die Hauptstadt der Jugendkriminalität sei in Theo Rüttingers Einsatzgebiet ganz klar Singen. Hier sei vor allem die Sozialstruktur dafür verantwortlich. Radolfzell und Stockach würden beide eine ähnliche Täterdichte aufweisen: mehr Kriminalität als in kleineren Gemeinden, aber doch deutlich weniger als in Singen. Auf der Höri seien vor allem Drogendelikte akut. Dies läge an der Nähe zur Schweiz, vermutet Rüttinger.

„Jugendkriminalität ist ganz normal“, sagt der 58-Jährige. Um sich abzunabeln, würden einige Jugendliche gegen das Wertesystem verstoßen. Es seien aber nicht alle gleich Schwerkriminelle. „Wenn ich so daran denke, was wir früher für Fälle hier hatten – dass Jugendliche die Polizeiwache überfallen haben, um ihren Freund aus den Arrest zu befreien. Das wäre heute etwas für die Tagesthemen“, erinnert sich Theo Rüttinger. Und er lässt sich zu einer besonderen Bewertung hinreißen: „Die Jugend ist eigentlich besser als je zuvor.“