Corona ist weit weg? Mit dieser Vorstellung eines vermeintlichen Gesundheits-Idylls am See räumt Sebastian Jung, Chefarzt für Innere Medizin und Ärztlicher Direktor am Hegau-Bodensee-Klinikum Radolfzell, gründlich auf: „Wir behandeln im Moment 25 Patienten, die an Covid-19 erkrankt sind. Insgesamt sind an unserem Haus in diesem Jahr 125 Patienten mit dieser Diagnose behandelt worden.“ Und noch etwas hält der promovierte Mediziner fest: „Die überwiegende Anzahl dieser Patienten hat die Krankheit überlebt, einige sind gestorben, aber viele Patienten leiden unter Folgeschäden wie einer Lungenveränderung.“ Auch dies hätten die Erfahrung und der Umgang mit Corona gezeigt: „Wann alles und ob alles vollständig ausheilt, wissen wir nicht.“

  • Covid-19-Patienten in Radolfzell: Im Gegensatz zur ersten Welle habe man sich im Gesundheitsverbund im Landkreis Konstanz entschlossen, neben den großen Kliniken in Singen und Konstanz auch das Haus in Radolfzell mit in die Behandlung einzubeziehen. „In der zweiten Welle hätte das nicht mehr ausgereicht, die Patienten müssen auf alle verfügbaren Betten verteilt werden.“ Wer in einem medizinischen Beruf arbeite, der wolle bei dieser besonderen Herausforderung nicht an der Seite stehen und zuschauen, „der will helfen und sich einbringen“. Es wäre doch komisch, wenn seine Assistenzärzte später sagen müssten, sie hätten in Radolfzell nie einen Corona-Patienten behandelt. Deshalb begrüßt Jung ausdrücklich, dass das Klinikum Radolfzell einen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie leisten könne. Zur Zeit liegt das Krankenhaus, was Corona-Patienten angeht, über der geplanten Versorgungsgrenze von 21 Patienten. „Wir haben 23 Patienten auf Normalstation, zwei sind an den Beatmungsgeräten auf der Intensivstation“, berichtet Chefarzt Jung.
Screenshot vom Video-Gespräch mit Chefarzt Sebastian Jung. Der 60-jährige Mediziner arbeitet seit 25 Jahren im Klinikum in Radolfzell.
Screenshot vom Video-Gespräch mit Chefarzt Sebastian Jung. Der 60-jährige Mediziner arbeitet seit 25 Jahren im Klinikum in Radolfzell. | Bild: Becker, Georg
  • Organisation im Krankenhaus: Unter „Normalstation“ verstehen die Mediziner den nicht-intensiven Pflegebereich. Dennoch ist die Behandlung und Pflege der Covid-19-Patienten auf drei abgeschirmten und räumlich getrennten Normalstationen (einschließlich Geriatrie) aufwendig. Es liegt immer nur ein Patient pro Zimmer, auf der Intensivstation kann ein Patient pro Box versorgt werden. Die Räumlichkeiten seien „komplett getrennt“, den Behandlungsteams seien immer ganz bestimmte Patienten zugeteilt. Sebastian Jung: „Auf zehn Patienten kommen zwei Krankenpflegerinnen oder Krankenpfleger pro Schicht, wir haben drei Schichten.“ Die Doppelbesetzung sei auch in der Nacht notwendig, weil immer ein Pfleger am Patienten sei und der andere die notwendigen Geräte oder Medikamente anreichen kann. Damit würde Zeit für den sonst notwenigen Wechsel der Schutzausrüstung eingespart.
  • Belastung und Belegschaft: Chefarzt Jung empfindet eine hohe Dankbarkeit für die Einsatzbereitschaft und die Flexibilität der 300 Mitarbeiter im Krankenhaus Radolfzell. „Alle machten toll mit, nicht nur das medizinische Personal.“ Die Corona-Pandemie fordere alle Berufsgruppen heraus: „Der Seelsorger kompensiert die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten der Patienten. Das Team im Einkauf sorgt dafür, dass das Material nicht ausgeht, die Techniker müssen unter Infektionsschutz Reparaturen ausführen, auch das Reinigungspersonal hat neue Aufgaben“, hat der Ärztliche Direktor einen Blick aufs Ganze. „Überall entstehen Überstunden.“
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  • Das Risiko im Krankenhaus: Das Personal sei sich der Gefahr der Ansteckung bewusst. Es gebe keine Besprechung ohne FFP2-Schutzmaske, „ich desinfiziere sicher 40- bis 50-mal am Tag die Hände, das ist völlig normal“. Dazu gebe es ein striktes Testkonzept für das Personal: „Wir hatten bisher über zehn Infizierte.“ Alle hätten sich „durch die Bank“ außerhalb des Krankenhauses angesteckt. „Von den Infizierten erkrankt aber nur ein geringer Teil“, sagt Mediziner Jung.
  • Kaum Corona-Leugner: Einem ansonsten sehr lauten Teil der Bevölkerung begegnet Sebastian Jung im Krankenhaus so gut wie gar nicht: „Corona-Leugner gibt es hier ganz selten.“ Weder bei den Patienten noch bei den Angehörigen sei das Querdenken in dieser Sache verbreitet. Auch nicht bei den Patienten, die nicht wegen Covid-19 behandelt werden. „Alle sehen den Aufwand, den wir betreiben.“ Alle seien froh, dass sie behandelt werden.
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  • Chefarzt lässt sich impfen: Immer wieder wird Sebastian Jung von Patienten oder auch von Mitarbeitern darauf angesprochen, ob er sich impfen lässt. „Meistens im Aufzug, wenn die Gelegenheit für ein kurzes Gespräch ist“, sagt Jung. Und der Chefarzt beantwortet die Frage eindeutig: „Ja, ich lasse mich auf jeden Fall impfen.“ Für den Mediziner stehen die Erfolge durch diese Methode außer Frage, viele Krankheiten wie Kinderlähmung oder Pocken seien durch Impfungen ausgerottet. Beschwerden wie Fieber, die beim Impfen auftauchen, gehören für den Mediziner dazu und deshalb klärt er gerne über die Nebenwirkungen von Impfungen auf. Er sagt: „Freut euch, dass ihr diese Beschwerden habt. Das ist doch der gewünschte Effekt: dass das Immunsystem trainiert wird.“