Einst fuhr den Kolleginnen und Kollegen der Schreck in die Knochen, wenn er zur Tür in die Redaktion Radolfzell hinein schritt. Ein Bibbern und ein Zittern erhob sich in den Räumen, obwohl der Thermostat an den Heizungen schon vorsorglich auf die unmoralische Fünf für superwarm gestellt war.

Der Nachtkönig – im Kreise der Kollegen nannte man ihn abschätzig Eismann, weil er im Sommer fast jeden Tag auf zwei Kugeln bei Fernando bestand – konnte mit einem fiesen Halbsatz die gefühlte Raumtemperatur auf einen Schlag um zehn Grad herunterkühlen: „Wer hat mir aus meiner Überschrift das Wörtchen kalt gestrichen, wer?“

Widersacher in Konstanz und Singen

Und wehe, wehe es meldeten sich nicht fünf Gestalter und drei Chefredakteure, die aus dem Satz „Die kalte Arroganz der Macht“ das kleine, unscheinbare Wort „kalt“ gestrichen haben wollten. Dann wurde die ganze Mannschaft in der Eistonne gebadet. Im Game of Towns, kurz GoT oder Spiel der Städte genannt, kannte der Eismann keine herzerwärmende Gnade für Widersacher in Konstanz oder Singen. Sein Motto lautete spätestens seit der Seegfrörne 1963: „Der Winter naht, ist das beste für Radolfzell.“

Weil die Industrie- und andere Geldkapitäne aus der schönsten Stadt unterm Hohentwiel auf Eis ins Schlingern kommen, weil der Konziladel aus Konstanz auf diesem Untergrund merkt, dass auch seine Knochen zerbrechlich sind. Wie gut, dass es zu Eiszeiten immer noch ein Krankenhaus in Radolfzell gab. Nur der Alt-Radolfzeller bewegt sich auf diesen geglätteten Flächen wie in seinem natürlichen Habitat, er ist quasi auf Gnadensee und Zeller See auf Kufen groß geworden und fürchtet weder Eis noch Dämmerung.

Unten Seegfrörne mit Silhouette von Radolfzell aus dem Jahr 1963, oben die Redakteure als Möchtegerndarsteller in der Serie „Game ...
Unten Seegfrörne mit Silhouette von Radolfzell aus dem Jahr 1963, oben die Redakteure als Möchtegerndarsteller in der Serie „Game of Thrones“ (von links): Sandor „Bluthund“ Clegane alias Mario Wössner, Lady Sansa Stark alias Anna-Maria Schneider, Arya Stark alias Laura Marinovic und der Nachtkönig alias Georg Becker. | Bild: Gerald Jarausch/Florian Hoffmann/Archiv Sutter

Der Winter naht – ohne Eis

Doch wie das so ist mit den Boomern, sei es als Eismann oder Nachtkönig, er ist in Zeiten wie diesen ein auslaufendes Modell. 60 Jahre nach der großen Gfrörne trägt das Eis nicht mehr, der Klimawandel hängt wie Glühweinnebel über dem Markelfinger Winkel, die Kormorane krallen sich in den Kronen der Weiden fest und höhnen über den See: „Der Winter naht, aber nie mehr mit Eis.“ Auf den Hohn folgt der unvermeidliche Sturz alter Gemeinheiten.

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Genug ist es mit der eiskalten Herrschaft, die den Wandel behindert. Das Schlittschuhlaufen ist passé, es lebe das Surfen im Internet. Niemand anders als die – soll man sagen – eiskalte Rächerin Arya Stark versetzt dem Nachtkönig den letzten kleinen Schubs zum Fall in die kniehohe Pfütze in der kleinen Bucht vor dem Mettnauturm. Es braucht keinen valyrischen Stahl, um solch einen Dino der gedruckten Zeilen in den Schlamm der Bedeutungslosigkeit zu stoßen. Es reicht schon der Schlachtruf: „Online first!“ Im Matsch vor der Mettnau fällt ein Kristall nach dem anderen von der eisigen Krone ab.

Es geht ohne den Nachtkönig weiter

Der Nachtkönig ist nur noch Schimäre einer jäh endenden Nachrichtenmoräne. Es preschen vor zu neuem Glanz und Gloria und bringen deutlich mehr Wärme in die Redaktion Radolfzell die jugendliche Bastion der Meinungsmacher und Wissensvermittler: Ganz vorne Lady Sansa vom Schild der gnadenlosen Nachricht, gefolgt von Arya Stark, der ideenreichen und schnellen Texterin, unterstützt vom treuen „Bluthund“ Sandor Clegane, der jede Geschichte zwischen Rebberg und Horner Wasserturm erschnüffelt.

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Schaffen die drei es in diesem Spiel der Städte, dem Radolfzeller OB die Figur des tragischen Helden Jaime Lennister zuzuordnen? Wird er im Lied von Geld und Gesundheit zerrissen zwischen der Treue zu seiner Stadt und den Verlockungen der Außenlande in Konstanz und Singen?

Wer nimmt welche Rolle ein?

Wer nimmt die Rolle des gnadenlosen Ramsey Bolton ein? – Das muss nicht zwangsweise ein Vertreter der Hohentwielstadt sein. Zu erwarten ist auf jeden Fall, dass die Herrschenden dort nach Bohlingen an ihren Grenzlanden einen Staudamm für die Radolfzeller Aach errichten und so dem Zeller See das Wasser abschneiden.

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Ihr Motto: Wenn Singen schon nicht am See liegt, soll Radolfzell vertrocknen. Womit sie nicht rechnen: Die Arbeiter von Alu, Maggi, Georg Fischer sind überhaupt nicht damit einverstanden, dass die Boote vor ihren Zweitvillen auf der Höri nun auf dem Trockenen liegen. Wird es zu einer Revolution kommen, die eine Hitze verbreitet, zu der im Vergleich die Hochöfen der Industriestadt nur ein wärmendes Lagerfeuerchen sind?

Unerbittliches Spiel der Städte

Ist der Landrat für die Figur des Petyr Baelish geschaffen, eines wendigen Vertreters für die Mehrung der Finanzen in der Serie GoT? Wird er die edle Lady Sansa vor dem Presserat zu meucheln versuchen oder kommt die tapfere Arya noch rechtzeitig und rettet ihre Chefin mit einem Audio-Dokument vor den Schergen der Rechthaberei?

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Muss ein Konstanzer Herrscher die politisch scharfsichtige wie zwielichtige Rolle des Lord von Grauenstein übernehmen, weil sonst das Spiel der Städte zu fad wird? Er empfiehlt für Radolfzell die ultimative Entblößung: „Ein nackter Mann hat wenig Geheimnisse, ein gehäuteter hat gar keine.“

Die Rivalität bleibt ohne den Nachtkönig

Die unwahrscheinliche Variante im Spiel der Städte lautet: Am Ende sind alle so brav wie Kreisrat Martin Schäuble. Denn nicht alle Spieler – wie Martin Schäuble – kommen aus Radolfzell.

Fest steht: 60 Jahre nach der großen Seegfrörne wird es zu keiner Seeschlacht der Städte kommen. Weil Singen kein Seezugang hat und der Untersee zwischen Radolfzell und Konstanz nicht ausreichend zufriert oder austrocknet, weil die Singener die Aach stauen. Die Kampfgebiete um ein neues Lazarett werden auf staubigen Boden verlagert. In die trocken gelegten Sümpfe hinter Böhringen oder die Niederungen bei Singen. Der Klimawandel und die Starks haben den Nachtkönig vertrieben, die Rivalität der Städte bleibt.