Rund zwei Jahrzehnte lang hat Martin Schätzle in seiner kleinen Hautarztpraxis im zweiten Stock der Schützenstraße 17 in Radolfzell Kassenpatienten behandelt. Doch damit ist seit diesem Sommer Schluss. Wer die Website seiner Praxis aufruft, bei dem öffnet sich ein Fenster mit dem Hinweis: „Bitte beachten Sie, dass wir seit dem 1. Juli 2024 eine Praxis für Selbstzahler und Privatpatienten sind.“
Aber kann ein Arzt einfach aufhören, Kassenpatienten zu behandeln? Ja, das sei möglich, erklärt Kai Sonntag, Leiter des Stabsbereichs Kommunikation der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Wer als Arzt Kassenpatienten behandeln möchten, brauche hierfür einen Kassensitz. Wer einen besitzt, sei auch dazu verpflichtet, Kassenpatienten zu behandeln. Kassenärzte könnten jedoch ihre kassenärztliche Zulassung zurückgeben. Dann dürfen sie jedoch nur noch Privatpatienten und Selbstzahler behandeln. Hierfür müsse der Arzt nicht einmal eine Frist einhalten, so Sonntag.
Radolfzeller Hautarzt gibt seinen Kassensitz zurück
Und genau das hat Hautarzt Martin Schätzle gemacht. Die Entscheidung, seinen Kassenarztsitz zurückzugeben und nach rund 20 Jahren nur noch Selbstzahler und Privatpatienten in seiner Radolfzeller Praxis zu behandeln, sei ihm schwergefallen, wie der 61-Jährige berichtet. Die endgültige Entscheidung sei erst Ende 2023 gefallen. „Bis zum Schluss war es schwierig“, erklärt der Hautarzt.

Die Gründe für seinen Schritt seien vielschichtig. Zum einen seien es gesundheitliche Gründe, die ihn dazu bewogen hätten, zum anderen habe er es allmählich nicht mehr geschafft, mit der zunehmenden Bürokratisierung des Gesundheitssystems zurechtzukommen. Dann sei auch noch die Corona-Krise dazu gekommen. Die Auflagen des Gesundheitsamts und die Unsicherheit, wie es weitergehe, aber auch medizinische Entscheidungen der Politik während der Pandemie, die er teilweise nicht verstanden und auch nicht geteilt habe, seien ihm an die Substanz gegangen. Zeitgleich seien immer mehr Patienten in die Praxis gekommen, auch viele Menschen aus anderen Städten und sogar Landkreisen. „Wir haben praktisch nie Patienten abgelehnt“, sagt Schätzle.
Einführung der elektronischen Patientenakte
Aber auch die verpflichtende Einführung der elektronischen Patientenakte (ePa) ab 2025, die Martin Schätzle kritisch sieht, hätte ihn zu diesem Schritt bewogen. Denn als Privatarzt sei er bisher nicht zur Nutzung elektronischer Patientenakten verpflichtet. Der Mediziner kritisiert, die elektronische Patientenakte würde die Patienten „gläsern“ machen. Denn die in der elektronischen Patientenakte gespeicherten sensiblen Daten würden an einen zentralen Server gehen, auf den nicht nur die behandelnden Ärzte, sondern theoretisch bis zu zwei Millionen Mitarbeiter im Gesundheitswesen zugreifen könnten, so Schätzle. Möglicherweise könnten dadurch auch Versicherungen an heikle Daten, beispielsweise über Vorerkrankungen der Patienten, gelangen, befürchtet der Mediziner.
Auch die in seinen Augen unzureichende Sicherheit der Patientendaten aus der ePa bereitet Martin Schätzle Sorgen. Aus seiner Sicht könne er die ärztliche Schweigepflicht, die er seinen Patienten gegenüber habe, durch die elektronische Patientenakte nicht mehr garantieren. „Mir ist wichtig, dass die Dinge, die hier besprochen werden, auch hier bleiben“, sagt der Arzt.
All das sei ein „No-Go“ für ihn gewesen. „Das kann ich nicht, das will ich nicht mitgehen“, sagt der 61-Jährige. „Die Summe von diesen Dingen hat mich bewogen, dann letztlich mit der Kassenmedizin aufzuhören.“ Aber nicht ganz ohne Bedauern: „Ich habe sehr gerne kassenärztlich gearbeitet“, erklärt Schätzle.
Trotzdem sei er bisher zufrieden mit seiner Entscheidung. Zwar hat er durch die Abgabe seines Kassensitzes weniger Patienten und dadurch auch finanzielle Einschnitte zu verzeichnen. Aber das sei es ihm aus den genannten Gründen wert. Außerdem habe er nun aufgrund der geringeren Patientenzahl wieder mehr Zeit für Medizin: „Ich kann mir viel mehr Zeit pro Patient nehmen.“
Die meisten Patienten haben Verständnis
Und wie fiel die Reaktion seiner Patienten auf die Entscheidung aus? „Es gab überraschend viele Patienten, die meine Beweggründe verstanden haben“, berichtet Schätzle. Das sei in gewisser Hinsicht erleichternd für ihn gewesen. Es habe nur relativ wenige negative Reaktionen gegeben, sagt der Mediziner. Einige seiner ehemaligen Kassenpatienten seien sogar als Selbstzahler bei ihm geblieben.
Viele seiner ehemaligen Kassenpatienten aus der Stadt seien bei seinem Radolfzeller Kollegen András Rozsondai untergekommen, berichtet Schätzle. An ihn habe er die Hälfte seines Kassensitzes abgegeben. Sie hätten vereinbart, dass zumindest seine Patienten aus Radolfzell dort weiterbehandelt würden. „Das war mir schon sehr wichtig.“
Such nach einem Abnehmer für den Kassensitz
Für die Praxis von Rozsondai bedeute die Entscheidung von Martin Schätzle und die Übernahme des halben Kassensitzes natürlich mehr Patienten als zuvor, wie der Hautarzt berichtet. „Wir nehmen natürlich mehr Patienten an, aber klar, wir haben auch nur begrenzte Kapazitäten“, so Rozsondai. „Wir müssen etwas intensiver arbeiten.“
Die Termine seien gefragt und der Terminkalender meist lange im Voraus voll. Sie könnten nicht alle Patienten bedienen und ein wenig nach der Schwere der Erkrankung selektieren, die würden dann natürlich vorgezogen. Andere Hautärzte im Landkreis würden teilweise gar keine Neupatienten mehr aufnehmen, berichtet Rozsondai.
Für die andere Hälfte seines Kassensitzes suche Martin Schätzle derzeit noch nach einem Abnehmer. Bisher habe sich aber noch kein Nachfolger gefunden. Der halbe Sitz sei derzeit bereits zum dritten Mal ausgeschrieben. „Ich hoffe, dass ich den noch weitergeben kann“, sagt der 61-Jährige. Sollte er bis Mitte 2025 niemanden finden, der die andere Hälfte des Kassensitzes übernimmt, würde dieser ganz verschwinden.
Der Grund: Der Landkreis Konstanz gilt laut der Bedarfsplanung als ausreichend versorgt, die Versorgungsquote beträgt derzeit 146,7 Prozent. Deshalb könnten zwar bereits bestehende Kassenarztsitze weitergegeben werden, jedoch keine neuen Sitze mehr vergeben werden, wie Kai Sonntag von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, erklärt.