Nach mehr als einem Jahr Pandemie sind neben den akuten wirtschaftlichen Folgen auch die psychischen Auswirkungen der Distanz und des Lockdowns in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Vor allem Eltern werden nicht müde, die Konsequenzen der dauerhaften Schulschließung auf die psychische Gesundheit ihrer Kinder anzumahnen. Schule auf, Schule zu und ständiges Homeschooling zehren an den Nerven der Eltern und ihrer Kinder.
In der Radolfzeller Luisenklinik, einer Tagesklinik für psychisch kranke Kinder und Jugendliche, häufen sich aktuell die Fälle von Depressionen und völliger Antriebslosigkeit schon bei Grundschulkindern. Marion Piela-Vieth ist Chefärztin der Luisenklinik und berichtet von der schwierigen Situation, in der gerade alle Familien mit schulpflichtigen Kindern stecken und an der einige scheitern.
Jede Struktur und Routine fehlen
„Auch maximal organisierte Kinder kommen mittlerweile an ihre Grenzen. Andere Kinder, die davor schon Probleme hatten, geben völlig auf“, sagt die Chefärztin. Ohne den geregelten Tagesablauf durch den Präsenzunterricht in der Schule würden sich einige Kinder gar nicht mehr aufraffen können, irgendwas zu erledigen. Ihnen würde jede Struktur und Routine fehlen.
Diese Kinder und Jugendliche würden dann aufstehen, wann sie wollten, die Aufgaben nicht erledigen, den Homeschooling-Unterricht nicht besuchen oder den PC einfach anmachen und nicht aktiv daran teilnehmen. „Dies führt unweigerlich zu familiären Problemen“, so Marion Piela-Vieth. Und besonders verzweifelte Eltern würden dann in der Luisenklinik um Hilfe bitten.
Depressionen, mangelnde Hygiene, Essstörungen und mehr können Folge sein
Doch sei nicht nur die Erwartungshaltung der Eltern ein Grund, warum die Kinder und Jugendliche in der Luisenklinik behandelt werden. Die Antriebslosigkeit münde nicht selten in einer Depression. „Manche Kinder reagieren dann aggressiv. Andere ziehen sich komplett zurück, entwickeln Ängste, gehen kaum noch raus, manche stehen morgens nicht einmal mehr auf und vernachlässigen die Körperhygiene“, zählt die Ärztin als Folgen auf.

Im Verlauf der Pandemie hätte sich das Krankheitsbild, mit dem einige Kinder und Jugendliche auf die Ereignisse reagiert hätten, stark verändert. Anfangs habe es mehr Kinder mit Zwangsstörungen oder Essstörungen gegeben. Jugendliche hätten mit Sozialphopien oder Angstzuständen auf den ersten Lockdown reagiert. Mittlerweile seien Depressionen viel häufiger. Diesen versuche man in der Luisenklinik mit einem strukturierten Tagesablauf entgegenzuwirken. „Bei manchen ist es schon ein Therapieerfolg, wenn sie morgens hier her kommen“, sagt Marion Piela-Vieth. Andere wiederum würden vor lauter Langeweile ins andere Extrem abdriften, alle Regeln ignorieren oder mit Alkohol oder Drogen anfangen.
Kunst-, Musik- oder Bewegungstherapie, aber keine Handys
Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren werden von 8 bis 16 Uhr in der Tagesklinik am Rande der Mettnau in Radolfzell versorgt. Der Tagesablauf ist klar geregelt, es gibt verschiedene Therapieangebote, die beispielsweise aus Kunst-, Musik- oder Bewegungstherapie bestehen. Ziel sei es, den Kindern wieder eine Struktur zu geben und sie von einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung zu überzeugen. Viele der Jugendlichen würden davor vom Aufstehen bis zum Schlafengehen vor einem Bildschirm sitzen, deswegen gelte in der Luisenklinik Handyverbot. Der hohe Medienkonsum hätte bei einigen Kindern zu einer extremen Gewichtszunahme geführt.
Auch würden Kinder durch die geschlossenen Schulen und das Abstandsgebot wichtige soziale Kompetenzen nicht erlernen können. „Ohne Schulunterricht und ohne Interaktion mit Freunden führt es zu massiven sozialen Defiziten“, sagt die Chefärztin. Diese Fähigkeiten könne man nicht digital erlernen.
Hoffnung auf Impfungen für Kinder
Die dauerhaft geschlossenen Schulen hätten auch die Arbeit in der Luisenklinik erschwert. Denn eigentlich solle nach einigen Wochen Aufenthalt in der Tagesklinik der neu erlernte Tagesablauf auf den Alltag zu Hause übertragen werden. Doch ohne der Struktur der Schule könne man auch die Struktur der Therapie nicht fortführen. Marion Piela-Vieth hofft auf eine baldige Impfmöglichkeit von Kindern, damit diese eine langfristige Perspektive auf Schulunterricht haben. Denn neben den sozialen Aspekten hätten sich bei einigen Kindern massive Bildungslücken aufgetan.
„Wir erleben hier Kinder, die seit Monaten keinen Unterricht mehr besucht haben“, sagt sie. Das könne man auch nicht mehr so einfach aufholen. Überhaupt sei es für Kinder schwer, nach dieser langen Pause wieder an den Unterricht von vor der Pandemie anzuschließen.