Die Gassen sind düster, die Wohnungen erhellt, die Arbeitszeit des Radolfzeller Nachtwächters beginnt. Vor dem Stadtmuseum steht er im Bauernhemd. Die Arbeitskleidung hat er noch nicht angezogen: Umhang, Hellebarde, Laterne, Filzhut und Nebelhorn liegen auf einer Bank neben dem Corona-Testzelt. Dann schlägt die Münsterglocke. Er wirft seinen Umhang über, zieht sich den Filzhut auf und startet mit der Tour: „Hört Ihr Leut‘ und lasst Euch sagen.“
Seine Zuhörer haben acht Euro für eine Zeitreise in die Vergangenheit gezahlt. Bei diesem Ausflug in die Radolfzeller Geschichte erklärt er ihnen in Mundart, was seine Zunft mache, dass er „unzumutbare Arbeitszeiten“ hätte und dass er im Gehaltsgefüge der Stadt Radolfzell ganz unten stehe. Nur der Henker verdiene noch weniger. „Und deshalb habe ich den Arbeitgeber gewechselt“, sagt der Nachtwächter. „Ich arbeite nun für die Tourismus- und Stadtmarketing Radolfzell GmbH. Die zahlen besser.“ Die Teilnehmer lachen.
Wernert: „Nachtwächter-Touren haben keinen Anspruch auf Seriosität“
Humor, Stadtgeschichte und Straßentheater: Dieses Konzept für Stadtführungen hat sich bundesweit etabliert. Von Norddeutschland bis an den Bodensee bieten Städte mittlerweile Nachtwächterführungen an. Seit rund zehn Jahren gibt es die Führungen auch in Radolfzell.
Hinter der Figur des Radolfzeller Nachtwächters steht der ehemalige Musiklehrer Wolfgang Wernert. Seine Rolle als Nachtwächter versteht er als Verlängerung seines Lehrberufs. „Ich mache es, weil ich gern Inhalte vermittle und ein Entertainer bin. Als Lehrer war ich das auch zu einem gewissen Grad“, sagt er.
Was ihm an seiner Rolle besonders gefalle: „Im Gegensatz zur klassischen Stadtführung haben Nachtwächter-Touren keinen Anspruch auf Seriosität. Die ist mir wurst“, sagt er. „Die Leute wollen gut unterhalten werden.“
Nicht jede Teilnehmergruppe lässt sich vom Hüter der Nacht beeindrucken
Damit die Teilnehmergruppe auch etwas von dem Rundgang mitnehmen, habe sich der Mögginger in die Geschichte des Radolfzeller Stadtgeschichte eingelesen, erzählt er. Aber jede Teilnehmergruppe sei anders, erklärt er. „Die eine lässt sich leicht begeistern. Bei anderen springt der Funken gar nicht über.“ Ob das gelingen kann, merke er häufig in den ersten Minuten.

Nach ein paar Witzen des Nachtwächters setzen sich die Teilnehmer in Bewegung. Zuvor will er noch Werbung machen für seine Profession. Denn der Nachwuchsmangel mache schließlich auch vor seinem Beruf nicht Halt. Daher suche er „einen Praktikanten“, der für ihn die Laterne halten solle, sagt er. Nach anfänglicher Stille verpflichtet er einen der Teilnehmer, den anschließenden Weg zum Marktplatz, zur Statue von Bischof Radolf, zum Österreichischen Schlösschen und zum Stadtgarten zu beleuchten.
Nachtwächter-Nachfolger: „Die Figur erinnert an finstere Zeiten und hat auch etwas Schützendes“
Für den Nachwuchs – besser gesagt: für die Nachfolge – hat Wernert bereits gesorgt. Seit Kurzem teilt er sich die Nachtwächter-Führungen mit Marius Beck. Der 46-Jährige ist Tourenführer am Campus Galli in Meßkirch und schlüpft als Stadtführer in Radolfzell bereits regelmäßig in die Rolle des Dienstboten Hannes. Beck soll in der Zukunft die Rolle des Nachtwächters komplett ausfüllen. Wann genau, sei noch unklar, so Wernert. „Im Moment mache ich es gern, es kann aber sein, dass ich es irgendwann nicht mehr kann.“

Beck ist voller Euphorie für seine neue Aufgabe. „Die Figur Nachtwächter ist spannend“, sagt er. „Sie erinnert an finstere Zeiten und hat auch etwas Schützendes.“ Zur Vorbereitung auf die Rolle habe er „alles aus dem Stadtarchiv“ und eine Vielzahl von Romanen aus der damaligen Zeit gelesen, sagt er. Daneben habe er sich auch Nachfertigungen von Stiefeln aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs besorgt. „Ich will Geschichte lebendig machen und den Leuten ein Panorama vor Augen führen“, sagt er. Bislang habe er nur wenige Führungen als Nachtwächter gemacht, sagt Beck. „Ich war davor sehr nervös.“ Doch er fühle sich wohl in seiner neuen Rolle.
Feierabend noch vor Mitternacht
Nach rund anderthalb Stunden stehen die Teilnehmer wieder am Seetorplatz. Die Münsterglocke schlägt ein letztes Mal auf diesem Rundgang. Der Praktikant gibt dem Nachtwächter seine Laterne zurück. Anschließend macht Wernert sich auf den Weg zu seinem Auto. „Früher musste ich mein Auto auf dem Parkplatz beim Mayer-Areal abstellen und im Kostüm durch die Straßen gehen. Da haben mich immer alle angeguckt“, sagt er. Heute dürfe er dagegen am Münster parken, das habe ihm der Pfarrer erlaubt.
Am Auto angekommen, wirft er Umhang, Hellebarde, Laterne, Filzhut und Nebelhorn in den Kofferraum und macht die Kerze in der Laterne aus. Im Bauernhemd am Steuer schaltet er die Autoscheinwerfer an. Seine Arbeitszeit ist nun beendet. Einst arbeitete ein Nachtwächter bis in die Morgenstunden, heute kommt er noch vor Mitternacht nach Hause.