Der Zug kann nicht weiterfahren wegen eines Defekts. Diese Meldung hört man leider öfter. Doch in diesem Fall ist sie positiv. Denn es ist die Ausgangssituation des Stücks „Nächster Halt Reichenau“, für das eifrig geprobt wird im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau. Das inklusive Theaterprojekt unter der Leitung von Caroline Renz ist ein Beitrag zum Jubiläum 1300 Jahre Reichenau – und mit den Aufführungen Mitte März wird es zugleich die erste Kulturveranstaltung im großen Veranstaltungsreigen sein.
Wobei natürlich der soziale Aspekt bei diesem Projekt eine wichtige Rolle spielt. Das Jubiläumsmotto „Wir knüpfen ein Band“ passe zum ZfP, so Caroline Renz. „Das ist für uns auch immer ein Thema: von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen.“ Und zum Stück, das die Sozial- und Theaterpädagogin zusammen mit 21 Laiendarstellern erarbeitet hat, passt das Motto erst recht. Der Seehas steht am Bahnhof Reichenau und kann nicht weiterfahren. Und dabei treffen ganz unterschiedliche Menschen aufeinander, die notgedrungen Zeit miteinander verbringen müssen.
„Da entwickeln sich manche Begegnungen und kleine Geschichten“, erklärt Caroline Renz. Unter dem inklusiven Aspekt „Drinnen und draußen“ sei ihr dabei auch der Rollentausch wichtig, so die erfahrene Pädagogin, die schon etliche Theaterprojekte geleitet hat. Bei „Nächster Halt Reichenau“ wirken ZfP-Mitarbeiter, aktuelle und ehemalige Patienten sowie Heimbewohner und zwei weitere Externe mit. Durch einen Rollentausch könnten die Mitspieler mal eine andere Perspektive einnehmen und sich so einfühlen in andere Personen, so Caroline Renz.

Als Beispiel nennt sie die Figur eines Ornithologen. Der könne Gitarre spielen und nutze die Gelegenheit im Zug. Er spiele unaufgefordert und wolle Geld sammeln für „arme Amseln“, berichtet Caroline Renz. Was zumindest anfangs nicht so gut ankomme bei anderen Fahrgästen. Den Ornithologen spielt Harry Rumge, er lebt im ZfP-Pflegeheim. Er habe früher mal vier Semester Theaterwissenschaften studiert und mache aus Interesse und Neugier mit, das sei „Ablenkung vom Alltag“. Und die Rolle als Ornithologe sei für ihn okay, sagt Harry Rumge.
Als weiteres Beispiel nennt Caroline Renz die Figur eines Uni-Physikprofessors. Ein Lokalreporter sei zum defekten Zug gekommen und wolle Fahrgäste interviewen. Und der Professor erzähle ihm dann etwas über Plasmaphysik. Davon habe sie selbst keine Ahnung, sagt die Pädagogin lachend. Diese Textpassage habe der Mitspieler selbst geschrieben. Den Professor spielt Volkert Anton, ein ehemaliger Patient. Er habe früher mal Physik studiert, erklärt er. Und zu seiner Motivation, am Projekt teilzunehmen, sagt er: „Für mich ist es eine Gelegenheit, meine Zeit sinnvoll zu verbringen und mit Menschen zusammenzukommen.“
Mitarbeiter und Patienten stehen zusammen auf der Bühne
Aktuell Patientin ist Michaela Erne. „Ich war schon immer Theaterfan“, sagt die junge Frau. In der Kindheit in der Schule habe sie auch schon mal Theater gespielt. Im aktuellen Projekt spiele sie eine Therapeutin – eine, die Schach spielen könne. Die Rolle gefalle ihr. Barbara Baur dagegen ist seit kurzem Referentin für Unternehmenskommunikation im ZfP.
Im Stück sei sie eine Frau, die Stimmen hört – vor allem eine etwas gehässige Stimme, die ein Eigenleben entwickele. „Für mich ist es eine tolle Gelegenheit, ganz unterschiedliche Leute kennenzulernen“, erklärt sie ihre Motivation. „Und was ich toll finde, ist das Inklusive an dem Projekt. Es hat sofort viel Spaß gemacht.“
Von der Freude an dem Projekt berichten auch die anderen Mitspieler. Ferhat Maya sagt: „Wir sind am Lachen ohne Ende.“ Er kommt als Besucher ins ZfP, wolle hier aber ein Praktikum machen. Er habe schon im Jahr 2017 an einem Theaterprojekt von Caroline Renz teilgenommen, „Das war megacool“, so der junge Mann. Deshalb habe ihn das neue Projekt gleich angesprochen. „Ich wollte erst einen Pfleger spielen“, sagt er, doch nun sei er ein Schachgroßmeister, was auch gut passe. „Ich spiele wirklich Schach im Verein.“ Und er finde es toll, dass bei dem aktuellen Projekt in so kurzer Zeit so viel entstanden sei.
Das Stück entstand in gerade einmal vier Wochen
Das betonen auch Caroline Renz und die Psychologie-Studentin Nelly Ludwig, die ihr bei dem Projekt assistiert und selbst mitspielt. Am 2. Januar sei die erste Probe gewesen. Nur die Szenerie mit dem stehenden Seehas sei vorgegeben gewesen. Dann habe man gemeinsam die Rollen gesucht. So sei die Handlung entstanden, wobei die Mitspieler Ideen eingebracht hätten.
Und innerhalb von vier Wochen habe man gemeinsam das Stück erarbeitet, so Caroline Renz. „Es fasziniert mich total, wie Theater wirkt und Leute mitreißt, wie schnell wir so eine tolle Gruppe geworden sind und wie kreativ die Leute sind, Ideen haben und sich dreimal in der Woche treffen.“ Und beim Treffen Ende Januar, wo das fertige Stück erstmals gelesen wurde, habe es allgemeine Freude gegeben darüber, was in der kurzen Zeit entstanden ist.
„Es wird ein sicherer Raum geschaffen, wo man mal zeigen kann, was in einem steckt, wozu es im Alltag keine Gelegenheit gibt“, erklärt die Pädagogin. Und Nelly Ludwig erläutert, warum das Stück zudem gut zum Gemeindejubiläum passt. „Wir haben auch ein bisschen was zur Vergangenheit im Stück, aber es geht viel um das aktuelle Leben. Und wie man es vielleicht besser machen kann in der Zukunft, wie man ein bisschen wacher durch die Welt gehen kann.“