Herr Wehrle, Herr Thiel, Sie feiern 1300 Jahre Reichenau. Warum? Die Insel im Untersee gibt es doch noch länger…
Wehrle: Genau gesagt feiern wir die Gründung des Klosters auf der Insel durch den heiligen Bischof Pirmin, der als Glaubensbote des fränkischen Reichs Alemannien zum Glauben bekehren wollte. Nach drei Jahren hat er die Insel verlassen und weitere Klöster gegründet.
Sind die Reichenauer deshalb so gläubig?
Wehrle: Nicht gläubiger als andere. Aber traditionsbewusster als andere, was mit einer gewissen Volksfrömmigkeit verbunden ist. Das äußert sich in den Insel-Feiertagen, die aus der Klostergeschichte erwachsen sind. Das liegt auch an der Insellage; da geht weniger verloren. Es ist eine Welt für sich. Für andere ist es schwieriger dort reinzukommen, denn die Reichenauer sind zuerst reserviert nach dem Motto: „Wa isch au des für einer.“ Die Inselgemeinschaft ist halt etwas Besonderes.
Thiel: Es gibt einen Fachbegriff dafür: homo sapiens reichenaugiensis. Im Ernst: Die Traditionen sind gelebtes Brauchtum. So kann man das Feuer heute noch erleben. Es ist wie eine Zeitreise, denn auch die mittelalterlichen Strukturen sind noch vorhanden. Aus Versehen bin ich einmal in einen Inselfeiertag hineingeraten. Da dreht sich die Welt schon anders.
Welche berühmten Namen, die mit der Klostergeschichte verbunden sind, sollte man unbedingt kennen?
Wehrle: Markus.
Thiel: Ich kenne ein paar Markusse. Die sind aber sehr unheilig.
Wehrle: Wir verehren den Evangelisten Markus als Inselpatron. Um 830 kamen Reliquien mit Bischof Ratold, der später Radolfzell gegründet hat, auf die Au.
Ein Reichenauer hat Radolfzell gegründet?
Wehrle: Er war Alemanne und Bischof von Verona. Viele Alemannen kamen später im Alter wieder zurück in die Heimat. Egino, auch ehemaliger Bischof von Verona, war schon in seiner Cella am Westende der Insel und hat zu Ratold gesagt: „I will di it säne.“ Der Abt der Reichenau wollte mit Ratold nicht schon wieder einen Bischof auf seiner Insel haben und hat ihm dann ein anderes Gelände, das dem Kloster gehört hat, gegeben. So ist Radolfzell entstanden.
Thiel: Das war seinerzeit ja der reinste Senioren-Tourismus. Da kamen sicher auch viele Pilger, oder?
Wehrle: Der Tourismus auf der Reichenau beginnt eigentlich mit dem Konstanzer Konzil 1414-1418, auch wenn davor schon Kaiser und Könige zu Besuch kamen. Zur Konzilszeit waren gerade noch zwei, drei Mönche im Kloster auf der Au. Da war „tote Hose“. Aber die Konzilbesucher wollten auch mal was anderes sehen als nur Konstanz und entdeckten die Insel als Ausflugsziel, schließlich gab es da alte Kirchen und eine tolle Bibliothek. Manche Bücher wurden ausgeliehen – und wurden nicht mehr zurückgebracht…
Apropos Bücher. Prachtexemplare werden in der großen Landesausstellung im Archäologischen Landesmuseum (ALM) gezeigt. Wieso ist diese auf Konstanzer Festlandsboden? Wurde die Reichenauer Bürgerwehr entsandt, um das ALM zu erobern?
Wehrle: Nein. Wir sind friedliebende Menschen und nur aus Traditionsgründen bewaffnet. Kein einziges Gewehr kann schießen.
Thiel: Das hast Du uns vorher nicht gesagt… Ist aber sehr sympathisch!
Wehrle: Es gab Überlegungen, auf der Insel eine Ausstellungshalle zu bauen. Doch die Anforderungen in Sachen klimatischer Bedingungen und Sicherheit und die damit verbundenen Kosten waren zu hoch. Natürlich sind wir auch enttäuscht, denn die wertvollen Bücher und Prachthandschriften hätten wir gerne bei uns auf der Insel gehabt. Das schmerzt schon, aber wir akzeptieren das. Das ALM ist ja nicht weit weg. Und unser Motto lautet ja: „Wir knüpfen ein Band“; nicht nur zu den Nachbargemeinden am Untersee, sondern auch zu Konstanz. Aus touristischer Sicht ist ohnehin schon vieles verbunden. Das Jubiläum ist ja keine Eintagsfliege. Die Interessierten können beispielsweise einen Tag auf der Reichenau und einen weiteren Tag in der Ausstellung in Konstanz verbringen.
Ich wittere eine kleine Sensation. Die Prachtschriften werden Insulaner in Scharen locken. So viele Reichenauer wie noch nie werden das Konstanzer Festland betreten!
Thiel: Das ist die Retourkutsche für die Konzilzeit, wenn auch zeitverzögert. Es gibt vieles aus den vergangenen Jahrhunderten, was uns verbindet. Wir waren und sind eine Region, ein Team, Update 2.0, denn mit dem Regio Konstanz-Bodensee-Hegau e.V. haben wir eine Tourismusorganisation geschaffen, um die bedeutende Geschichte interessant aufzubereiten und zu präsentieren. In vielen Gemeinden wird es im Jahr 2024 große Silhouetten geben, die auf die bedeutende Reichenauer Klostergeschichte verweisen und neugierig machen. Top-Geschichte inklusive.
Wehrle: Kloster ist nämlich nicht nur die Mauer drumherum. Die strahlende Reichenau war schließlich prägend für den Bischofsitz Konstanz, das größte Bistum der damaligen Zeit. St. Gallen gehört auch dazu, schließlich haben sich die St. Galler im Mittelalter von uns Bücher geliehen und abgeschrieben. Das war Wissenstransfer.
Thiel: Nicht umsonst hat die Reichenau den Titel Welterbe des Mittelalters. Es war ein mächtiges Konstrukt, das auf der Reichenau entstanden ist, das spirituelle Zentrum Europas.
Was wird das Einzigartige an diesem großen Jubiläum sein?
Wehrle: Die Zweiteilung. Zum einen gibt es das Original: Die Insel Reichenau mit ihren Kirchen, dem neu gestalteten Museum, der Schatzkammer und den neu angelegten Klostergärten. Zum anderen die Ausstellung im ALM, wo der Schwerpunkt auf den Prachthandschriften liegt. Die Menschen werden wegen dieser Bücher kommen. Das wird die einmalige Gelegenheit sein, diese Schriften im Original zu sehen, denn sonst liegen sie im Tresor. Die Reichenau ist übrigens zweimal in der Unesco-Welterbe-Liste; mit der Kulturlandschaft, die ein herausragendes Zeugnis von der religiösen und kulturellen Rolle eines großen Benediktinerklosters im Mittelalter ablegt, und den Handschriften des Klosters Reichenau aus dem 10. und 11. Jahrhundert als herausragendes Zeugnis der ottonischen Buchmalerei. Zehn dieser Handschriften sind benannt und sechs von ihnen kommen meines Wissens in die Ausstellung.
Thiel: Es sind die kostbarsten Bücher der Welt, die in Konstanz gezeigt werden.
Welche sind für Sie drei weitere Top-Veranstaltungen?
Wehrle: Es werden viele Bürgerprojekte initiiert. Drei Tage lang macht die Insel Musik, wobei sämtliche musikalischen Gruppierungen der Au auftreten. Es wird Freilichtspiele mit dem Titel „Reichenau – Eine Zeitreise“ geben mit etwa 120 Akteuren und viel Musik. Was uns besonders wichtig ist: Wir feiern mit allen Gemeinden am Untersee einen Tag der Nachbarschaft, denn wir möchten im Jubiläumsjahr den Austausch feiern, denn auch das Kloster war damals weltoffen. Das muss uns Vorbild sein.
Herr Thiel, mit welchen Veranstaltungen können Sie Ihre Söhne, beide im Teenager-Alter, begeistern?
Thiel: Mit einer Radtour auf die Reichenau, dorthin kann ich sie mit Essen locken. Das ist die ideale Kombination: Sich aktiv bewegen, gut essen und dann noch Kultur genießen.
Das heißt: Besuch des Reichenauer Wein- und Fischerfestes steht schon in Ihrem Terminkalender?
Thiel: Dort gibt es elf verschiedene Stände der Reichenauer Vereine. Zusammen schaffen wir es, uns komplett durchzuprobieren. Und selbstverständlich gehen wir auch in die Landesausstellung.
Wehrle: Es gibt aber auch interessante Mitmach-Angebote für Kinder und Erwachsene. Im Museum wird es ein Scriptorium geben, wo an Wochenenden Kalligraphie-Workshops geboten werden.
Thiel: So werden Geheimnisse einer längst vergangenen Zeit heute wieder erlebbar. Vom Konziljubiläum wissen wir, dass dies gut angenommen wird. Es kommen zudem viele Gäste aus dem Bildungsbürgertum – darauf freuen wir uns.
Mit welchem Getränk stoßen Sie zum Jahresauftakt an: Mit dem Cuvée Imperia der Spitalkellerei Konstanz oder dem Spätburgunder Augea Felix der Reichenauer Winzergenossenschaft?
Thiel (launig): Wir machen aus beiden einen Cuvée.
Wehrle: Ich glaube nicht, dass das gut ist. Man muss ja nicht nach einem Glas aufhören und kann beides probieren. Außerdem wird es eine Sonderedition mit drei Reichenauer Jubiläumsweinen geben.