Wer in diesen Tagen durch die Singener Innenstadt geht, der erlebt an fast jeder Ecke eine Überraschung. Wo gestern noch italienische Abendmode im Schaufenster gezeigt wurde, sind die Glasfronten mit Folie verklebt. Emma hat sich mit ihren Wohnaccessoires schon ein paar Wochen früher aus der Erzbergerstraße verabschiedet. In der Scheffelstraße ist Alice mit ihrer eleganten Damenmode ausgezogen und Rossner räumt seinen Standort in den Postarkaden.

Aus der Ekkehardstraße haben sich der Filialist Ava mit seiner Damenkonfektionsware und das Taschengeschäft Kohler und Gehring zurückgezogen. Das sind nur einige Beispiele. Leerstände häufen sich zur Zeit und werfen die Frage auf: Was ist los in der City? Hat der Verdrängungswettbewerb schon vor der Eröffnung des neuen Einkaufszentrums Cano begonnen? Was hat dazu geführt, dass der Handel sich derart rasant verändert?
Internethandel ist das größere Problem
Einer, der Antworten darauf haben müsste, ist Oliver Rahn. Der Wirtschaftsförderer der Stadt Singen bestätigt die Beobachtungen. Er spricht sogar von Schnelllebigkeit in der Innenstadt. Als Ursache dieser Entwicklung sieht er jedoch nicht in erster Linie das Cano, das im November 2020 gegenüber dem Bahnhof mit rund 16.000 Quadratmetern Verkaufsfläche an den Start gehen will; ein wesentlicher Grund für den Wandel sei der Internethandel. Doch der macht allen Branchen in allen Städten zu schaffen.
Ein anderer, singenspezifischer Grund könnten die vielen Baustellen in der Kernstadt sein, die dem einen oder anderen Einzelhändler das Leben erschwert habe. „Grundsätzlich sind die Veränderungen aber nicht negativ“, sagt Rahn und ergänzt: „Jeder versucht, einen optimalen Standort zu finden. Und das kann dort auch zu Verbesserungen führen. Wie das Juweliergeschäft an der Ecke Scheffel-/Schwarzwaldstraße zeigt.“ Das sei eine Aufwertung des Standortes.
Doch solche Neuansiedlungen sind eher selten. Wer nach Singen kommen will, interessiert sich vor allem für große Flächen. Großhandel, Verteilzentren, Logistikunternehmen suchen Grundstücke. Allerdings in der Südstadt. Ein neuer Trend geht in der Innenstadt von der Gastronomie aus. Ein Bereich, mit dem Singen bisher nicht punkten konnte. Erst vor ein paar Wochen hatten Gutachter des Mannheimer Marktforschungsinstitutes GMA im Gemeinderat dringend dazu geraten, die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt zu verbessern.
Die Sanierung der Fußgängerzonen ist ein Schritt; eine attraktive Gastronomie ein weiterer. Und das geht jetzt nach jahrelanger Erstarrung offenbar schneller als erwartet. Gestern noch befanden sich in Helmut Wessendorfs Laden in der Hegaustraße Haarpflegeartikel. Heute bewirten Luciano und Maria Bennardo ihre Gäste im gleichnamigen Laden-Restaurant mit Feinkost und edlen Weinen. Das Konzept kommt sehr gut an. Nachbar Hans Wöhrle spricht sogar von einem Glücksfall. Aus vom Gasthaus Kreuz hört man ebenfalls nur Gutes, und bei Emma soll ein Chinarestaurant einziehen.

Georg Majstrak hat bei der Stadtplanung die Entwicklung der Innenstadt seit vielen Jahren genau im Blick. 55.000 Quadratmeter Verkaufsfläche wollen bespielt werden. Dazu kommen Gastronomie und Dienstleistungsunternehmen. Für ihn gibt es keine Leerstandsproblematik. „Wenn alles ewig besetzt wäre, gäbe es keine Entwicklung“, sagt er. Wenn sich jetzt einige Verkaufsflächen in Restaurants verwandeln, so trage das zur Attraktivität bei.
Innenstadt soll Ort der Begegnung werden
Das sei auch dringend nötig, ist die Geschäftsführerin des Standortmarketingvereins Singen aktiv, Claudia Kessler-Franzen, überzeugt. „Die Kunden haben sich verändert und sind anspruchsvoller geworden“, sagt sie. Die digitale Gesellschaft führe zur Vereinsamung. So werde es für den stationären Handel zur Herausforderung, die Menschen in die Geschäfte zu bringen. „Die Innenstadt wird zum Ort der Begegnung“, hat sie beobachtet. „Dabei spielt die Gastronomie mit Atmosphäre eine wichtige Rolle.“
Derzeit finde eine Neuorientierung statt. So auch für den Drogeriemarkt Müller, der vom jetzigen Standort ins Cano umziehen wird. Hier wird eine große Ladenfläche frei, für die jetzt schon ein neuer Interessent gesucht wird. Die Immobilie ist bereits in Vermarktungsportalen zu finden.

Dass sich die Stadt in einem großen Umwälzungsprozess befindet, bestätigt auch der Sprecher des City-Rings, Michael Burzinski. „Innovation ist gefordert“, sagt er. Einige ältere Unternehmer hätten den Wandel nicht mehr mitmachen wollen. So wurden Läden frei, die jetzt von Gastronomie oder Dienstleistung genutzt werden. Mit dem Cano suche man den Schulterschluss. Die Centerleiterin Carolin Faustmann habe signalisiert, dass sie mit dem örtlichen Handel zusammenarbeiten wolle, erklärt Burzinski und fügt noch hinzu, dass die Scheffelstraße neue Impulse benötige.
Der Vorsitzende des Singener Einzelhandelsverbandes, Hans Wöhrle, sieht das genauso. „Die untere Scheffelstraße leidet unter mangelnder Frequenz“, sagt er. „Wir müssen es schaffen, dass die Kunden künftig vom Cano in die City kommen. Ich bin sicher, dass wir da noch einen Schub kriegen.“ Erlebnisgastronomie, wie sie in der Hegaustraße entstanden ist, sollten Schule machen. Die aktuellen Veränderungen seien nötig, auch was die Öffnungszeiten angeht. „Gut, dass Singen aufwacht“, sagt er und lobt im Grundsatz die Substanz. „Die Hegaustraße ist traumhaft geworden.“ Andere könnten folgen.