Im Kellerbüro von Wilhelm Waibel hängt über seinem Schreibtisch eine kleine Fahne in den ukrainischen Landesfarben Blau und Gelb. Direkt neben dem Schreibtisch stapeln sich kistenweise die Aufschriebe von Singens 87 Jahre alten Ehrenbürger. „Das geht alles ins Archiv der Stadt, sieht ein bisschen unordentlich aus“, entschuldigt sich der einstige Gründer der Städtepartnerschaft mit dem ukrainischen Kobeljaki, die ihn zum Ehrenbürger machte.

Das Bild zeigt Wladimir Ogitschuk, ehemaliger Politiker aus Kobeljaki, der 2009 verstarb, und Wilhelm Waibel (rechts) bei einem Besuch ...
Das Bild zeigt Wladimir Ogitschuk, ehemaliger Politiker aus Kobeljaki, der 2009 verstarb, und Wilhelm Waibel (rechts) bei einem Besuch des Singener Ehrenbürgers in Kobeljaki. | Bild: Wilhelm Waibel

Bereits seit den 1960er Jahren setzt sich Waibel mit dem Schicksal zahlreicher Zwangsarbeiter in Singen während der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Besonders mit der Ukraine und der dortigen Partnerstadt Kobeljaki ist er tief verbunden. Er blickt mit großer Sorge auf den drohenden Angriff und Einmarsch Russlands in die Ukraine. „Die Lage ist nur sehr schwer zu beurteilen. Aber ich habe schon Angst, dass sich die Lage dort zuspitzen kann“, sagt er weiter.

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Wilhelm Waibel betont, dass er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen kriegerischen Akt durchaus zutraue. „Auch die Menschen in Kobeljaki haben Angst davor“, sagt Waibel, der nach wie vor gute Kontakte in die Ukraine pflegt.

Dies liege vor allem auch daran, dass es in der Ukraine Menschen gebe, die dem russischen System nicht abgeneigt seien. „Die Ukraine wurde ja immer zwischen verschiedenen Systemen hin und hergeschoben“, sagt er gegenüber seiner Heimatzeitung.

Wilhelm Waibel ist gerade dabei, seine Aufschriebe für das Stadtarchiv zu digitalisieren lassen. In seinem Büro stehen rund 50 Kisten davon.
Wilhelm Waibel ist gerade dabei, seine Aufschriebe für das Stadtarchiv zu digitalisieren lassen. In seinem Büro stehen rund 50 Kisten davon. | Bild: Matthias Güntert

Rund 2500 Kilometer trennen Singen von der ukrainischen Partnerstadt Kobeljaki. Dort brodelt bereits seit Jahren ein Konflikt zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Kräften. Aktuell halten jener Konflikt und die Sorge vor einer russischen Invasion in die Ukraine die Politik in Atem. Wilhelm Waibel spricht offen davon, dass er sich sorge, dass es mitten in Europa wieder zu einem Krieg kommen könnte. Das Schlimmste daran: „Die Menschen in der Ukraine haben das nicht in der Hand.“

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Oft sei Krieg ein Stück weit auch Zufall. Damit er ausbreche, reiche oftmals eine unüberlegte Handlung, nicht selten auch ein Missverständnis. „Die Menschen in der Ukraine sind abgehärtet, das hat die Geschichte gezeigt“, so Waibel. Aber sollte sich der Kreml dazu entscheiden, die Ukraine anzugreifen, hätten die Menschen laut dem 87-Jährigen nicht den Hauch einer Chance. „Sie werden sich natürlich wehren, daran habe ich keine Zweifel. Aber das wäre völlig sinnlos“, sagt er.

Läuft es wie bei der Krim?

Der Singener Ehrenbürger Waibel rechne im Falle eines Angriffes auf die Ukraine nicht damit, dass es viel Hilfe aus dem Westen geben werde. „Das wird ähnlich ablaufen, wie bei der Eingliederung der ukrainischen Halbinsel Krim“, sagt Waibel. Die Annexion der Krim 2014 erfolgte nach einem politischen und zeitweise bewaffneten Konflikt um die ukrainische Halbinsel. Auch damals hätten viele Experten die Eingliederung der Halbinsel in die geopolitische Einheit Russland als erzwungen angesehen.

„Da hätten wir auch Unterhosen schicken können.“

Die jüngste Unterstützung aus Deutschland – die Bundesrepublik hatte 5000 Schutzhelme in die Ukraine gesandt – ringt Wilhelm Waibel nur ein müdes Lächeln ab: „Eigentlich hätten wir da auch Unterhosen schicken können.“

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Auch der Journalist Oleg Reshetilo aus Kobeljaki hatte im SÜDKURIER jüngst harsche Kritik an der Helmlieferung geäußert: „Von der jetzigen Regierung sind wir tief enttäuscht. Sie helfen uns nicht, sondern sind Freunde von Russland. Sie wurden mit russischem Gas gekauft. Die 5000 Helme, die in die Ukraine geschickt wurden, sind ein Witz. Uns helfen die Engländer, Kanadier und Amerikaner mit Waffen. Aber nicht nur Deutschland, sondern auch die EU sind eine herbe Enttäuschung. Wieder ist die Ukraine ein Spielball der Großmächte, die Geschichte wiederholt sich. Leider“, sagte er im Interview mit Carmen Scheide, Singens ehrenamtlicher Partnerschaftsbeauftragten.

Waffenlieferungen sind nicht die Lösung

Ganz so einfach sieht es Wilhelm Waibel allerdings nicht. Er sei, geprägt durch die eigene Geschichte Deutschlands, ein Gegner von Waffenlieferungen: „Es gibt andere Hilfsmöglichkeiten.“ Und wer als Deutscher grundsätzlich gegen eine Hilfe sei, der solle sich die Frage stellen, ob dieses Denken auch vorhanden wäre, wenn Putin morgen Deutschland besetzen möchte. „Sollte uns dann niemand helfen?“, so Waibel.

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Die Theresienkapelle in der Fittingstraße 40 wurde vor 70 Jahren von Kriegsgefangenen gebaut. Heute wird sie von der Italienischen Katholischen Mission genutzt. Für deren Erhalt hat sich Wilhelm Waibel jahrelang eingesetzt. Bild: Susanne Gehrmann-Röhm | Bild: Susanne Gehrmann-Röhm

Zudem gehe er im Falle einer russischen Besetzung davon aus, dass ein neuer Flüchtlings-Strom in den Westen zu erwarten sei. „Denn wer dort Demokratie, wenn auch nur eingeschränkt, schon einmal am eigenen Leib erfahren hat, wird sich nicht mehr unter der Knute einer Putin-Herrschaft stellen“, sagt Waibel. Dann würden sich die Folgen der vermeintlich fernen Russland-Politik auch in Deutschland bemerkbar machen. Doch Singens Ehrenbürger Wilhelm Waibel hofft, dass es so weit nicht kommen wird.