Der blutige Familienstreit endet mit Tränen und Trauerklagen. Die Angehörigen der acht Angeklagten drängen sich vor die Plexiglas-Scheibe im Sitzungssaal des Oberlandesgerichts, um sich von ihren Lieben zu verabschieden. Denn die meisten dieser Männer müssen für mehrere Jahre ins Gefängnis, nachdem sie am 14. Dezember 2020 die Insassen eines VW-Busses am Friedrich-Ebert-Platz in Singen angegriffen haben. „Wir haben es hier mit einem ausgesprochen brutalen Überfall zu tun“, erklärte der Vorsitzende Richter Joachim Dospil bei der Urteilsverkündung am Montagmittag in Stuttgart-Stammheim. Das Landgericht Konstanz hat die acht Mitglieder einer syrischen Großfamilie wegen gefährlicher Körperverletzung zu teilweise mehrjährigen Haftstraßen verurteilt.
Der Haupttäter Samir A. muss für vier Jahre und sechs Monate ins Gefängnis. Vier weitere Täter müssen für vier Jahre hinter Gittern. Während der Angeklagte Zakaria A. nach Jugendstrafrecht zu zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, erhielten zwei weitere Angeklagte Bewährungsstrafen.
Eine Schlägerei sieht anders aus, fand das Gericht
Damit endet ein aufwendiger Prozess, der laut Vorsitzendem Richter Joachim Dospil nicht alltäglich gewesen sei. Das zeigten allein die Umstände: Verhandelt wurde in Stammheim, wo es mehr Platz und mehr Sicherheitsvorkehrungen gibt als in Konstanz. Auch die Tat sei nicht alltäglich, weil sie mitten am helllichten Tag in Singen geschah. Dabei betonte der Vorsitzende Richter, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Schlägerei gehandelt habe, wie die Verteidiger das teils dargestellt hätten: Eine Schlägerei sei wechselseitig, doch in diesem Fall seien acht Täter auf drei Opfer losgegangen. Diese gehören einer anderen syrischen Großfamilie an, mit denen die Verurteilten seit Jahren im Konflikt sind.

Außergewöhnlich fand Joachim Dospil auch, dass Videos von Anwohnern die Tat festgehalten haben – und dass so viel Bargeld im Gerichtssaal den Besitzer wechselte. Damit wollten die Angeklagten auch finanziell für ihre Tat gerade stehen: Bei dem Überfall wurde besonders das Hauptopfer Mizr A. mit 13 Messerschnitten erheblich verletzt. Er soll insgesamt 24.000 Euro Schmerzensgeld erhalten. Die beiden weiteren Opfer sollen jeweils 6000 Euro erhalten.
Eine gemeinschaftliche und geplante Tat – wenn auch nicht in dieser Zusammensetzung
Das Gericht unterscheidet zwei Tätergruppen: Die einen waren im VW-Bus des Opfers und hielten Mizr A. entweder fest oder traktierten ihn mit Schlägen und Messern. Die anderen zogen die beiden anderen Opfer aus dem Bus und verletzten sie. Doch es sei eine gemeinschaftliche und geplante Tat gewesen: „Spätestens am Friedrich-Ebert-Platz waren sich alle einig“, ordnete der Vorsitzende Richter ein. Die Zusammensetzung der Gruppe, die nun angeklagt war, sei vielleicht zufällig gewesen. Doch die Tat selbst sei nicht spontan gewesen.
Was bisher geschah
Der erste Verhandlungstag brachte Einblicke in die Großfamilie.
Schlagen oder töten? Um Übersetzungen und die Videos ging es an Tag 2.
Das Hauptopfer schilderte die Geschehnisse an Tag 3.
Alle drei Opfer waren an Tag 4 zu hören – samt einer fragwürdigen Erklärung.
Wie geplant die Tat war, zeigte Tag 5 mit einem Einblick in Chatgruppen.
Bei den Schlussplädoyers lagen die Wünsche auseinander – und Geld wechselte den Besitzer.

Dafür sprach auch, dass Angehörige der Täter-Familie sich in einer Chatgruppe austauschten und unter anderem davon schrieben, dass sie Mitglieder der verfeindeten Familie schlagen, schlachten oder töten möchten. Ähnliche Worte fielen auch während der Tat. Wegen der Mehrdeutigkeit arabischer Wörter sei zwar nicht eindeutig festzustellen, ob von schlagen oder gar töten die Rede war – doch das war laut Dospil auch nicht entscheidend.
Gericht unterscheidet zwei Tätergruppen
Die Täter im Bus hätten gewusst, dass ein Messer im Einsatz war, und hätten in Kauf genommen, dass jemand damit gefährlich verletzt werden könnte. Wer das Opfer wann mit einem Messer verletzt habe, sei nicht abschließend geklärt. Klar sei aber, dass Samir A. nicht nur zuschlug, sondern auch ein Messer nutzte. „Die schweren, lebensgefährlichen Verletzungen sind ihm zuzurechnen.“ Deshalb wurde er zu vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, während Ahmed A., Ahmad A., Ibrahim A. und Jehad E. für vier Jahre ins Gefängnis müssen.
Mit diesen Haftstrafen soll auch klar werden, dass solche Übergriffe in Deutschland „nicht gehen“, wie Dospil sagte. Daran ändere auch Schmerzensgeld nichts, denn von der rechtlichen Verantwortung könne man sich nicht freikaufen. „Da muss es eine empfindliche Freiheitsstrafe geben.“

Auch die anderen Täter waren nicht zimperlich. Dass Zakaria A. sein am Boden liegendes Opfer mit dem Fuß in den Nacken trat, hätte mit einem Genickbruch enden können. Zakaria A. wäre wenige Tage nach der Tat 21 Jahre alt geworden, wegen Reifeverzögerung wurde er nach Jugendstrafrecht verurteilt. Dennoch muss er für zwei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis. „Er muss lernen, dass man in Deutschland nicht einfach eine andere Person attackieren darf“, sagte Dospil und attestierte eine schädliche Neigung.
Warum zwei Männer auf Bewährung verurteilt wurden
Yahia A. sei am wenigsten beteiligt gewesen: „Eigene Schläge haben wir nicht gesehen.“ Deshalb erhielt er eine Haftstrafe von zwei Jahren. Auch Mohammad A., der mit seinem Geständnis bei der Polizei die Ermittlungen unterstützte, wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Beide müssen jeweils 200 Sozialstunden ableisten – und ins Gefängnis, wenn sie sich in den nächsten drei Jahren etwas zu Schulden kommen lassen.
Für immer entstellt? Nicht im juristischen Sinne
Trotz schwerer, lebensbedrohlicher Verletzungen sah das Landgericht keine schwere Körperverletzung wegen einer dauerhaften Entstellung des Hauptopfers Mizr A.: Dafür hätten die Verletzungen laut bisheriger Urteile des Bundesgerichtshofs noch gravierender sein müssen, erklärte Dospil. Eine dauerhafte Narbe reiche nicht aus. Auch ein Tötungsvorsatz der Täter wurde verneint. „Hätte man wollen, dass er stirbt, dann hätte man ihm einfach das Messer durch die Kehle gezogen“, sagte der Vorsitzende Richter.
Richter: Tat bringt Familie und Flüchtlinge in Verruf
Joachim Dospil äußerte die Hoffnung, dass die Familien aus dem Prozess gelernt haben und ihr weiteres Leben in Frieden führen. „Menschen, die vor Gewalt und Krieg aus Syrien flüchten, sind in Deutschland willkommen. Flüchtlinge, die hier Schrecken und Gewalt verbreiten, sind in Deutschland nicht willkommen.“ Mit ihrer Tat hätten die nun verurteilten Täter sowohl ihre Familie als auch Flüchtlinge allgemein in Verruf gebracht.
Zum Abschied warten die Angehörigen außerhalb des Oberlandesgerichts, bis ihre verurteilten Familienmitglieder einzeln in ihr jeweiliges Gefängnis gefahren werden. Das haben sie an vielen Verhandlungstagen so gemacht. Dieses Mal ist die Stimmung deutlich gedämpft – jetzt ist klar, dass die meisten Täter für mehrere Jahre im Gefängnis bleiben müssen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Stimmen und wie es weiter geht
Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach äußerte sich nach Urteilsverkündung zufrieden über das Urteil. Das Gericht sei weitgehend seinem Plädoyer gefolgt und es sei wichtig gewesen, ein Zeichen zu setzen. Doch er habe auch die enttäuschten Gesichter der Gegenseite gesehen und gehe davon aus, dass Revision eingelegt wird. Sylvester Kraemer verteidigt mit zwei Kollegen Samir A., der mit viereinhalb Jahren die längste Zeit im Gefängnis verbüßen soll, und kündigt genau das an: „Ich hätte mir für meinen Mandanten natürlich ein anderes Ergebnis gewünscht und erhofft“, erklärt Kraemer auf Nachfrage. „Es ist damit zu rechnen, dass Revision eingelegt wird.“ Dann würde der Bundesgerichtshof entscheiden.
Der Nebenklage-Vertreter äußert sich positiv über das am Montag ergangene Urteil: Die Familie des Nebenklägers glaube und vertraue dem Rechtsstaat. Allerdings sei in Ruhe zu analysieren, dass das Gericht die zahlreichen Messerschnitte und ihre entstellenden Narben nur als gefährliche Körperverletzung gewertet habe. „Die Narben des Geschädigten sowie psychischen Folgen werden bleiben“, so der Anwalt. Die Familie des Nebenklägers habe aber auch signalisiert, dass es Frieden möchte. Wunsch der Opfer und deren Familien sei es, gewaltlos zusammenzuleben, so der Nebenkläger-Vertreter auf Anfrage.