Herr Grau, Ihr älterer Bruder Marlon litt an einem schweren Gendefekt, der verschiedene Krankheiten und starke Einschränkungen mit sich brachte. Sie waren gerade einmal neun Jahre alt, als er starb. Das ist jetzt 13 Jahre her. Wie geht es Ihnen heute?

Mir geht es gut. Ich studiere in Konstanz und habe all die normalen Probleme, die ein junger Mann eben hat. (lacht). Und ja, wenn ich an die letzten 13 Jahre zurückdenke, dann war das keine einfache Zeit. Anfangs hatte ich Mühe, meinen Platz zu finden, in der kleinen, aber durcheinander gebrachten Familie.

Sie wurden sicherlich oft auf den Tod Ihres Bruders angesprochen.

Ja, direkt und indirekt. Wurde ich gefragt, wie viele Geschwister ich habe, dann war die Antwort nicht leicht und fiel je nach Stimmungslage unterschiedlich aus. Leugne ich? Mache ich ein Fass auf und erzähle? Ich habe letztlich einige Impulse von außen gebraucht, die mich auf die Spur gebracht haben.

Sie lebten mit Ihren Eltern neun Jahre lang zwischen Hoffen und Bangen. Erinnern Sie sich konkret an Momente, in denen Sie sich als Kind überfordert fühlten?

Ja, das gab es einige Momente, die ich bis heute bildlich vor Augen habe, wie Marlons epileptische Krampfanfälle, die eine der Begleiterscheinungen seiner Behinderung waren. Die waren besonders schwierig, denn sie kamen aus dem Nichts und dauerten oft sehr lange. Und gleichzeitig sehe ich auch die Verzweiflung und Überforderung meiner Eltern. Das war insgesamt kein schöner Anblick. Es gab eine Situation, in der ich merkte, dass meine Mutter mit den Nerven am Ende war und ich als Kind übernommen habe. Ich hatte mich zu Marlon ins Bett gelegt, blieb bei ihm, um ihr die Last zu nehmen.

Haben Sie als Kind vielleicht bewusst etwas getan oder vermieden, um die Eltern nicht zusätzlich zu belasten?

Ich glaube schon, dass man dann vieles nicht tut, manches bewusst, manche unbewusst, dass man versucht sich einzufügen in das spezielle Konstrukt. Ich denke, ich habe gelernt, mich etwas zurückzunehmen. Das ist das, was Geschwisterkinder in der Regel tun.

Nicht selten zerbrechen Familien an der Herausforderung.

Jede Familie geht anders mit so einer Situation um. Manche Familien zerbrechen, Ehen gehen auseinander, andere schweißen die Herausforderung noch mehr zusammen. Ich kann nicht für andere Geschwisterkinder sprechen, aber mir war klar: Es ist eine herausfordernde Aufgabe für meine Eltern, sie hatten zum ersten Mal ein schwerstkrankes Kind und mussten anfangen, irgendwie zu jonglieren. Es ist zudem auch ein Unterschied, ob ich das jüngere oder ältere Geschwisterkind bin. Ich habe Marlon, als ich auf die Welt kam, so kennengelernt, das war meine Lebensrealität. Was unserer Familie geholfen hat, war, zu kommunizieren, offen zu sein, nichts zu verheimlichen.

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Wie ist Ihr Freundeskreis mit Ihrer Situation umgegangen?

Es ist eine Frage der Perspektive und wie Eltern die Situation „rüberbringen“. Mein eigener Umgang war daher unbeschwert, ich kannte kein Schamgefühl. Daher war das auch für meine Freunde kein Thema. Wir haben zweimal meinen Kindergeburtstag im Krankenhaus gefeiert, weil es einfach nicht anders ging. Das war meine normale Welt. Auf der Einladung stand: Treffpunkt am Empfang des Kreisklinikums Ludwigsburg. Und der Clown kam dann eben dorthin, statt zu uns nach Hause, und ich hatte einen tollen Geburtstag.

Dennoch wird es kritische Phasen gegeben haben. Wo haben Sie dann Unterstützung gefunden?

Das ist ein megawichtiger Punkt, sich Unterstützung holen, Hilfe zulassen – ebenso die Eltern, aber gerade auch für die Kinder. Das ist das Beste, was man machen kann. Daher ist es so wichtig, auf die Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Ich habe damals über den Backnanger Kinder- und Jugendhospizdienst Sternentraum ehrenamtliche Begleiterinnen an die Hand bekommen, die jeden Dienstag für mich – und nur für mich da waren. Das waren keine Therapiestunden, so hat sich das auch nicht angefühlt. Sie haben mir das Schwimmen beigebracht und waren letztlich Freundinnen für mich und sind mir bis heute Beraterinnen in manchen Fragen.

Das entlastet die Eltern.

Ja, für sie ist es enorm wichtig, das gesunde Geschwisterkind im Auge zu behalten und zu sehen, dass es sich positiv entwickelt.

Als Ihr Bruder gestorben ist, gab es Rituale, die Ihnen vielleicht geholfen haben, mit der Situation umzugehen?

Im Gegenteil. Für mich war das Reisen ein Anker, das ich auf die Idee meiner Mutter hin begonnen habe. Bis zu Marlons Tod war meine Welt klein. Es gab die Schule, die Oma, die Eltern, den Garten – meine Mobilität war gleich null. Meine erste Reise, die ich mit meiner Mutter unternahm, ging nach Kambodscha, das war Kulturschock, denn zuvor war ich nicht einmal in Österreich. Bis heute ist eine therapeutische Komponente, auf meinen Reisen zu erleben, wie vielfältig die Welt und das Leben sind.

Es gibt mittlerweile einige Studien, die zeigen, dass Geschwisterkinder besondere Fähigkeiten und Stärken entwickeln. Können Sie das bestätigen?

Absolut! Das sehe ich alleine schon auf den Geschwisterfreizeiten des Philip Julius, die ich begleite. Wir kommen dann an Wochenenden – oder einmal im Jahr auch für eine ganze Woche – mit Geschwistern von schwer kranken oder verstorbenen Kindern zusammen. Jeder von ihnen hat seine ganz eigene Geschichte, ebenso wie wir Betreuer. Das ist eine unfassbar tolle, von Teamspirit geprägte Gemeinschaft. Und ich sehe immer wieder, dass diese Kinder empathisch sind, eine unglaublich große emotionale Intelligenz besitzen und Resilienz.

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Was haben Sie von Ihrem Bruder gelernt?

Ohne das jetzt zu kitschig machen zu wollen: Er hat mir und meiner Familie einen ganz besonderen Blick auf das Leben eröffnet, eine andere Perspektive auf den Wert von Gesundheit und die Dankbarkeit dafür. Meine Mutter sagte immer, wenn Marlon gelacht hat: „Es war ein guter Tag.“ Es ist nicht immer leicht, dieses Lebensgefühl und die Dankbarkeit im Alltag beizubehalten, aber es ist die Lektion, die ich bei meinem Ehrenamt in der Hospizarbeit oder auf meinen Lesereisen mit mir trage und weitergebe. Für mich ist diese Perspektive unfassbar schön und ich setze Marlon damit ein Denkmal. Ich sorge dafür, dass er nach wie vor nicht nur bei mir und meiner Familie wirkt, sondern auch nach außen hin. Das ist für mich das Schönste.