Impfgegner, Krieg in der Ukraine, Sozialbetrug, Steuerhinterziehung – auf vielen Seiten kann man Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sehen. Und man kann leicht den Eindruck bekommen, dass die menschliche Solidarität, in der Anfangszeit der Corona-Pandemie noch gefeiert, auf dem Rückzug ist. Kann man da noch an ein Wir glauben? Man kann, sagt Kirsten Brühl. Allerdings funktioniert ein Wir, eine Gemeinschaft, heutzutage anders, als man es gewöhnt war, sagt Brühl. Sie arbeitet als Coach und Zukunftsforscherin und beschäftigt sich seit 2014 intensiv mit der Wir-Kultur, wie sie es nennt.
Und Besucher des Wirtschaftsforums in der Singener Stadthalle können am Abend des Donnerstag, 23. Juni, aus erster Hand hören, was es mit der neuen Wir-Kultur auf sich hat und wie sie das Arbeitsleben, aber auch die gesamte Gesellschaft verändert. Denn Brühl ist die Hauptrednerin bei dem prestigeträchtigen Treffen für das Wirtschaftsleben in der Region. Und sie ist bei der neunten Auflage der Veranstaltung die erste Frau, die in dieser Funktion auftritt, wie Organisator Reinhold Maier von der Singener Stadthalle schon beim Pressetermin im Vorfeld erklärte.
Abschied vom großen Kollektiv
Von großen Kollektiven müsse man sich bei der neuen Wir-Kultur verabschieden, das ist Brühls Kernthese. Denn die Welt werde komplexer und vernetzter. Und auch Formen von Zusammenarbeit müssen sich dadurch ändern. Überhaupt, die Unternehmen. Auch sie müssen sich einer komplexer werdenden Welt anpassen. Per Dekret von oben könne das aber nur begrenzt funktionieren. Viele Unternehmen bräuchten also eine neue Unternehmenskultur, in der mehr Wert auf Selbstverantwortung gelegt werde. In der Startup-Kultur gebe es schon viele Beispiele, in denen das gut funktioniert. Doch bei großen Unternehmen sei das schwer zu erreichen: „Der Weg zur Selbstverantwortung ist lang und vertrackt.“
Person und Veranstaltung
Doch dieser Wandel ist nicht nur bei Unternehmen wichtig, sondern erfasst viele Bereiche, sagt Kirsten Brühl. Heute diagnostiziert sie viele gute Ansätze für eine Wir-Kultur in Deutschland. „Aber es könnte noch weiter gehen“, sagt sie. Man denke in Deutschland noch sehr stark in alten Bezügen. Dabei gebe es viele Initiativen, die ihr Mut machen, etwa im Klimaschutz. Dass ein solches kleineres Wir auch eine geschlossene Gemeinschaft sein kann, ist Brühl dabei wohl bewusst: „Unter Angst und Stress wird Offenheit schwieriger und geht zurück.“
Der theoretische Überbau ihrer Überlegungen ist die Metatheorie der Veränderung nach Klaus Eidenschink. Diese analysiert andere Theorien der Veränderung und soll beispielsweise Beratern und Kunden Orientierung im Wandel bieten. Warum hat sie nie eine Karriere in der Hochschule angestrebt? Kirsten Brühl hat dafür zwei Erklärungen: Einerseits wolle sie den praktischen Ansatz des Coachings nicht missen, diesen aber auch mit dem langfristigen Überblick der Zukunftsforscherin verbinden. Andererseits formuliert sie pointiert: „Ich ziehe gerne die Narrenkappe auf, um ungewöhnliche Hypothesen in die Welt zu bringen und zu überprüfen.“ Was nahe legt, dass in der Welt der Hochschule eine solche Narrenfreiheit vielleicht nicht überall gern gesehen wird. Und wenn man etwas Neues machen wolle, müsse man auf die schwachen Signale schauen. Mit anderen Worten: Gerade die Vorgänge, die noch nicht statistisch sichtbar werden, sind dann relevant – um dem Wandel auf die Spur zu kommen.