Während Hilmar Ohlenschläger von den Gräueltaten nationalsozialistischer Ärzte berichtet, fliegen Schmetterlinge um ihn herum. Die friedliche Atmosphäre seines Gartens in Steißlingen passt nicht zum Lebenslauf seiner Großmutter Berta, die 1940 in Grafeneck getötet wurde. Das vermutet Hilmar Ohlenschläger, nachdem vor zwei Jahren einige Unterlagen im Nachlass einer Tante gefunden wurden. Häppchenweise würden sie nun so langsam erfahren, was zwischen 1919 und 1940 passiert ist. Doch die Spurensuche ist schwierig.

Offiziell starb Berta Ohlenschläger im Frühjahr 1940 an einer Wurmfortsatzentzündung mit anschließender Bauchfellentzündung. Doch das heißt nichts, sagt Axel Huber. Er ist Stadtplaner bei der Verwaltung Singen und forscht zu Euthanasie-Opfern. Das Wort Euthanasie bezeichnet eigentlich aus dem Griechischen übersetzt einen guten, schmerzfreien Tod. Der Begriff wurde jedoch von Nationalsozialisten für industriellen Massenmord von kranken oder behinderten Menschen missbraucht.

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Von 30 Euthanasie-Fällen aus Singen weiß Axel Huber bislang, 24 davon starben in Grafeneck. „Der Ankunftstag war meist auch der Todestag. Und dann gab es eine Auswahl möglicher, gefälschter, Todesursachen“, so der Geschichtsforscher.

Liste entscheidet über Leben und Tod

„Grafeneck war in der ersten Phase 1940/41 eine von sechs Tötungsanstalten und für unsere Region zuständig“, erklärt Huber. Euthanasie sei ein sehr bürokratischer Vorgang gewesen. „Gutachter haben eine Liste geführt, wer leben darf und wer sterben soll. Hauptkriterium war, wer noch seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen konnte“, sagt Huber.

Auch in Berta Ohlenschlägers Todesurkunde ist Grafeneck vermerkt. Ein Warnsignal, das ihr Enkel Hilmar bis vor einigen Monaten nicht kannte. Axel Huber wiederum kennt es leider nur zu gut: „Wenn beim Sterbevermerk Grafeneck steht, ist der Fall klar.“

Axel Huber ist bei der Stadtverwaltung Singen eigentlich für die Mobilität zuständig. Doch er forscht auch zu Euthanasie-Forschung. Auf ...
Axel Huber ist bei der Stadtverwaltung Singen eigentlich für die Mobilität zuständig. Doch er forscht auch zu Euthanasie-Forschung. Auf seiner Liste hat er rund 30 bekannte Singener Fälle, 24 davon wurden in Grafeneck getötet. | Bild: Arndt, Isabelle

Seine Großmutter habe nach der Geburt ihres letzten Kindes eine Hormonstörung gehabt, sagt Hilmar Ohlenschläger. „Das hätte man behandeln können, aber man hat sie stattdessen eingewiesen“, ist ihr Enkel überzeugt. 500 Mark pro Jahr wurden dafür fällig, wie historische Dokumente vom November 1919 belegen. Für viele Jahre verschwand Berta Ohlenschläger in Einrichtungen, bis sie in der damals so genannten Landes-Pflegeanstalt Grafeneck starb.

Als Todestag wird der 19. Mai 1940 genannt, nachdem sie am 3. Mai eingeliefert worden war. Die Verstorbene sei sofort eingeäschert worden – „aus seuchenpolizeilichen Erwägungen“, wie es in einem Schreiben vom 20. Mai 1940 heißt. Unterschrieben wurde mit „Heil Hitler!“.

„Wir können nicht mehr nachfragen“

„Bei uns in der Verwandtschaft hat das keiner gewusst“, sagt Hilmar Ohlenschläger. Sie hätten zwar gemerkt, dass irgendetwas faul ist. Denn keiner habe von der Oma geredet. „Die müssen das verdrängt oder abgehakt haben“, sagt Ohlenschläger bedauernd. Sein Vater kam 1949 aus der Kriegsgefangenschaft und hat seine Mutter offenbar kaum gekannt. „Der hatte nach seiner Rückkehr andere Sorgen.“

Auch der Opa habe geschwiegen. Eine Haushälterin habe sich um die vier Kinder gekümmert, während der Opa die Gewerbeschule in Rheinfelden aufbaute. „Das war für mich die Oma“, sagt Ohlenschläger über die Frau, die sein Großvater später auch heiratete. Er selbst kam vor 50 Jahren nach Steißlingen, um in der Region als Bauingenieur zu arbeiten.

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Fehlende Gesprächspartner machen nun die Recherche schwierig: „Wir können nicht mehr nachfragen, denn bis auf meinen Bruder und mich sind alle gestorben“, berichtet der Enkel. Auch zu dem Schicksal einer weiteren Verwandten, Mina Ohlenschläger, gebe es kaum Hinweise.

Im Zweifelsfall war es Schwachsinn

Solche Situationen erlebt Axel Huber häufig: „Die Leute sind oft vergessen und man stößt nur durch Zufall darauf.“ Auch dass solche Lebensläufe in Familien nicht besprochen wurden, sei typisch für diese Zeit: „Jemanden mit Einschränkungen in der Familie zu haben, war schambehaftet.“ Dabei konnte es jedem passieren, plötzlich als psychisch krank zu gelten: „Tür und Tor waren da weit offen. Im Zweifelsfall war es angeborener Schwachsinn, dagegen konnte man wenig sagen“, sagt Huber. Betroffene und ihre Familien seien meist einfache Menschen gewesen, die dem Doktor im weißen Kittel nicht widersprechen wollten.

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Von den 30 Fällen, die Axel Huber in Singen recherchierte, habe nur eine Mutter eine Wiedergutmachung gefordert. Andere Betroffene schwiegen. Doch Huber betont: „Man muss sich dafür nicht schämen. Schämen müssen sich die Täter, aber die leben jetzt nicht mehr.“

Buch mit über 10.654 Namen von Opfern

Angesichts der sich enthüllenden Familiengeschichte ist Hilmar Ohlenschläger im April mit seinem Bruder auf die Schwäbische Alb gefahren. Nach Grafeneck, um den letzten Aufenthaltsort seiner Oma zu sehen. „Da läuft es einem kalt über den Rücken“, sagt er. Denn in einem dicken Buch könne man die Namen all derer nachschlagen, die in Grafeneck getötet wurden. Über 10.654 Menschen. Ein Grab für ihre Großmutter haben die beiden Brüder nicht gefunden.