Das Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf in Wahlwies ist das älteste Kinderdorf Deutschlands. In diesem Jahr feiert es seinen 75. Geburtstag. Die Gründerväter Erich Fischer, Musikwissenschaftler aus der Schweiz, und der schlesische Arzt und Landwirt Adalbert von Keyserlingk wollten Kindern und Jugendlichen, die durch den Krieg alles verloren hatten, einen sicheren Ort schaffen. In Baracken des ehemaligen Reichsarbeitsdienstlagers gründeten sie die Pestalozzi Siedlung und nahmen am 5. März 1947 die ersten Kinder und Jugendlichen auf.
Aufwachsen wie in einer richtigen Familie
Aktuell leben im Kinderdorf 150 Kinder in 26 Familien. Bis zu sieben Kinder wohnen gemeinsam mit einem pädagogisch qualifizierten Paar in einem Familienhaus. Die Kinderdorfeltern sind „soziale Eltern auf Zeit“. Im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendhilfeeinrichtungen, die im Mehrschichtmodell arbeiten, leben die Kinder und Jugendlichen hier in familienanalogen Verhältnissen. Das mache das Kinderdorf besonders, sagt Bernd Löhle, der seit 2011 Geschäftsführer ist.
Die Bedarfe haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Heute sind hier Kinder und Jugendliche untergebracht, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können – sei es, weil sie physischer oder psychischer Gewalt oder dem Drogenmissbrauch der Eltern ausgesetzt waren oder in irgendeiner anderen Form missbraucht wurden.

Stetig steigende Nachfrage
Bernd Löhle erklärt, man beobachte seit einiger Zeit eine stetig steigende Nachfrage nach Betreuungsplätzen. „Allein im vergangenen Jahr gab es 220 Anfragen von Jugendämtern.“ Ursächlich sei ein gesellschaftlicher Wandel. Eltern stießen zunehmend an ihre Grenzen und ambulante oder teilstationäre Hilfsangebote könnten die Probleme nicht mehr abfedern.
Im seit 1985 bestehenden Therapeutikum des Kinderdorfs werden zehn verschiedene Therapieformen angeboten, die jedes Kind individuell unterstützen. So kann es lernen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten sowie seinen Mut und sein Selbstbewusstsein stärken.

Auch leibliche Eltern werden unterstützt
Besuche der leiblichen Eltern werden meist durch das Jugendamt geregelt und vom Kinderdorf aktiv gefördert. Der Kontakt zu den Eltern werde gehalten, eine neutrale Person, nicht die Hausleitung, die das Kind betreut, sei bei Besuchen dabei, berichtet Bernd Löhle. Das Ziel sei schließlich, die Kinder irgendwann in ihre Ursprungsfamilien zurückzuführen. Dafür würden auch die Eltern mit entsprechenden Therapien unterstützt.
Im Kinderdorf gibt es zwei Kindergärten. Die Arche Noah besuchen zwölf externe und acht interne Kinder, im Waldkindergarten sind es je acht ex- und interne Kinder. In der Dr. Erich Fischer Schule, die sich zu einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum entwickelt hat, werden knapp 80 Kinder beschult. Die Hälfte von ihnen kommt aus dem Landkreis Konstanz. In der Grund-, Haupt- und Förderschule können die Kinder dank individueller Betreuung im Schulalltag wieder Fuß fassen und Freude am Lernen entwickeln.
Ausbildungsbetriebe fördern gesellschaftliche Teilhabe
Schon 1947 entstanden die ersten Handwerksbetriebe. Viel später kamen die Gärtnerei, die Bäckerei und der Erlenhof hinzu. Heute erlernen 62 Jugendliche in den neun Ausbildungsbetrieben (Schreinerei, Malerwerkstatt, Hauswirtschaft, Küche, Dorfladen, Obstbau, Gärtnerei, Bäckerei und Landwirtschaft) einen handwerklichen oder landwirtschaftlichen Beruf.
95 Prozent von ihnen kommen aus dem Landkreis oder von weiter her. 48 der 62 Auszubildenden machen eine Fachpraktiker-, die übrigen eine Vollausbildung. So bietet das Kinderdorf eigenen, vor allem aber externen Jugendlichen mit und ohne Förderbedarf die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe und ein eigenständiges Leben.
Wohnen und Arbeiten in einer geschützten Umgebung
Dass die Betriebe alle in der Nähe der Wohnhäuser liegen, hat einen weiteren guten Grund. Damit schaffe man ein Umfeld, das Kindern und Jugendlichen Heimat und Sicherheit vermittle. Gerade für Kleinkinder sei es ein wertvoller Beitrag, wenn sie nicht steril in einer Wohnsiedlung aufwüchsen, sondern hautnah erlebten, wie gearbeitet und etwas Sinnvolles erzeugt wird, erklärt Karl-Hermann Rist, der 1991 als Landwirtschaftsmeister mit seiner Familie ins Kinderdorf kam und heute auch im Vorstandsteam des Kinder- und Jugenddorfs ist. Er spricht aus Erfahrung, denn mit seiner Frau hat er auf dem Erlenhof viele Jahre lang eine Kinderdorffamilie geleitet und in der Zeit Duzende Kinder betreut.
Klare Vorstellungen für die Zukunft
Die Betriebe arbeiten für die Kinderdorf-Familien und -Mitarbeiter, nehmen aber auch Außenaufträge an. Ihre Arbeit lässt sich in gigantischen Zahlen beziffern: Die Hauswirtschaft wäscht beispielsweise rund 20 Tonnen Wäsche im Jahr, die Küche bereitet täglich 850 warme Mahlzeiten zu, die auch an 25 Einrichtungen der Region geliefert werden. Der Obstbau presst 25.000 Liter Saft und die Mitarbeiter der Bäckerei verarbeiten jährlich 65 Tonnen Getreide zu 107.000 Broten und 236.000 Brötchen.

Für die Zukunft hat Bernd Löhle klare Vorstellungen: „Ich wünsche mir für das Kinderdorf eine Basis aus Wohlwollen und Miteinander, damit es sich auf dieser Grundlage stets weiterentwickeln kann und offen bleibt für künftige Bedarfe.“ Die Notwendigkeit, den betreuten Kindern und Jugendlichen einen sicheren Ort zu bieten, bleibe das oberste Gebot des Kinder- und Jugenddorfs.