In der Altstadt findet man viele Gassen mit Namen, die Aufschluss darüber geben, wer hier früher gewohnt hat oder was gearbeitet wurde. Eine davon ist die Metzgergasse. Sie führt vom Marktplatz zur Heiligenberger Straße und ist, übrigens ganz zu Unrecht, etwas in Vergessenheit geraten. Noch in den 70er Jahren war hier noch das Elektrogeschäft Lorenz. Mancher Pfullendorfer wird sich daran erinnern, dass der Chef einen neuen Fernseher persönlich auslieferte und auch die Sender einstellte. So viele Kanäle wie heute gab es natürlich nicht und auf den Dächern ragten überall die Antennen in die Höhe. Von wegen Satellitenschüssel oder Kabelfernsehen.

Reste einer Dunglege
Unterhalb des Elektrogeschäfts gab es noch die Reste einer Dunglege, denn ursprünglich war Landwirtschaft in der Altstadt gar nicht selten. Am Eingang zur Gasse vom Marktplatz her befand sich das Geschäft von Metzgermeister Engelbert Mutschler. Als der sein Geschäft aufgab, zog 1973 die Hohentenger Bank hier ein. Im früheren Zunfthaus der Metzger konnte man nun Geldgeschäfte tätigen. Nach der Fusion mit der Volksbank Bad Saulgau führte diese hier noch längere Zeit eine Filiale, die dann in einen Neubau am Stadtsee umzog.

Ein echtes Kleinod in der Region
Auch die Bäcker hatten in der Metzgergasse ihr Zunfthaus und in den 70ern war das Gasthaus „Bäckerstube“ ein beliebter Ort für eine Einkehr. Aus der alten Tradition heraus verkehrten in der Bäckerstube auch andere Handwerker. Mit dem Ende des Gasthauses wurde es auch in der Metzgergasse ruhig. Nur das Bindhaus wurde wieder zum Leben erweckt und ist ein echtes Kleinod in der Region. Beim Gang durch die Wohnstuben hat man das Gefühl, dass die Bewohner nur mal kurz weg sind. Wer sich als 70er-Jahre-Fan outet, der kann in diesem Haus auch viel entdecken, das ihn vielleicht auch an seine Jugend erinnert. „Das hatten wir zu Hause auch“, ist ein Spruch, den man oft von Besuchern hört, denn hier gibt es auch Radios aller Fabrikate.
Hartmut Koblitz ist absoluter Bindhaus-Fan
Ein absoluter Bindhaus-Fan ist Hartmut Koblitz. Der 80-Jährige lebt seit 1960 in Pfullendorf und das immer noch „sehr gerne“, wie er im Gespräch erzählt. Er hatte an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten Geschichte studiert und war dann Lehrer an der Grund- und Hauptschule in der Linzgaustadt. „Da ich mich für Geschichte auch im Allgemeinen sehr interessiert habe, war es für mich ein Glücksfall, dieses Haus mit seiner besonderen Geschichte kennenzulernen“, erinnert er sich. Und zweifellos hat er einen sehr großen Anteil daran, dass man im Bindhaus heutzutage einen nostalgischen Gang durch alte Zeiten machen kann.

Beinahe wäre daraus aber nichts geworden. Denn das Haus, das aus dem Jahr 14 99 stammte, sollte in den 1960er Jahren verkauft und nach dem Tod der Bewohnerinnen dann abgebrochen werden. Man wollte hier ein Lagerhaus bauen. Aus heutiger Sicht unvorstellbar. Doch damals war Aufbruchstimmung in der Stadt und so mancher Bürger wollte „von dem alten Glump“ nichts mehr wissen. Es ist fraglich, ob man wegen des möglichen Abbruchs eine Bürgerinitiative gegründet hätte. Doch das Gebäude durfte stehen bleiben. Der damalige Bürgermeister Hans Ruck konnte den Gemeinderat überzeugen, dass man das Gebäude erhalten müsste.
Stadt tritt als Käufer auf
Also trat die Stadt als Käufer auf. Allerdings gab es wohl Probleme mit der Versicherung. Am 27. Januar 1970 erschienen Bürgermeister Ruck und die beiden Besitzerinnen Anna Martha Stengele geborene Probst und ihre Schwester Antonie Mathilde Probst im Notariat und erklärten schriftlich, dass der Kaufvertrag für sie Gültigkeit habe. Justizrat Rexroth beglaubigte das. Die Damen, obschon im hohen Alter, waren laut Dokument „unbedenklich geschäftsfähig und dem Notar persönlich bekannt“. Kein Wunder, denn die Probsts, die im Bindhaus wohnten, waren eine alteingesessene Kaufmannsfamilie mit nicht unbeträchtlichem Vermögen. So blieb der Nachwelt ein Einblick in die Wohnverhältnisse des reichen Bürgertums erhalten.

Wohnrecht und Leibrente für die Schwestern
Die beiden Schwestern behielten nach dem Verkauf das Wohnrecht und eine Leibrente. Anna Martha Stengele starb im September 1973. Antonie Mathilde Probst, die öfter in der Stadt anzutreffen war, wurde 1978 zu Grabe getragen. Sie hatte bis zum Schluss im Bindhaus gewohnt. In Pfullendorf war sie wegen ihres langen Zopfes bekannt, von dem eine Schleife sogar in Bodennähe baumelte. Sie wurde auch, und das besonders von den Kindern, „Zopftante“ gerufen.
Idee des Heimatmuseums entsteht
Mit Antonie Probst endete die Ära des Bindhauses als Wohnhaus. In den Folgejahren wurde hier im Erdgeschoss die Volkshochschule eingerichtet und 1980 begannen dann die Renovierungsarbeiten. „Zusammen mit dem damaligen Bürgermeister Hans Ruck betrat ich das erste Mal das Haus 1979“, erzählt Hartmut Koblitz. „Es ging um die Frage, was soll aus der Wohnung gemacht werden und vor allem: wer macht es. Ich war begeistert von dem Gedanken, hier etwas für die Allgemeinheit tun zu können.“ Er fing sofort mit den Planungen an und schaffte es, 15 bis 20 Schüler für seine Idee eines Heimatmuseums zu begeistern. Sie arbeiteten begeistert mit, dokumentierten mit Fotos die vorhandene Einrichtung und renovierten alle Zimmer von Grund auf. Da passte es, dass man seitens des Kultusministeriums ein neues Programm unter dem Titel „Erweitertes Bildungsangebot“ aufgelegt hatte. Was daraus entstanden ist, wird von vielen Touristen bewundert. Es abzureißen, wäre ein Vergehen an der Geschichte der ehemals freien Reichsstadt gewesen.
Ihre Bilder und Geschichten
- Ihre Bilder: Wir suchen Ihre Bilder und Geschichten aus den 70er-Jahren. Wie sah das Leben in den Dörfern und Städten damals aus? Schicken Sie uns Ihre Erinnerungsschätze und Fotos und wir begeben uns für Sie auf Spurensuche. SÜDKURIER Medienhaus, Lokalredaktion Pfullendorf, Hauptstraße 47, 88630 Pfullendorf, Tel. 0 75 52/92 29 62 41, E-Mail: pfullendorf.redaktion@suedkurier.de
- Unsere Serie: In der großen SÜDKURIER-Sommerserie „Gedächtnis der Region“ blicken wir in unseren Lokalteilen zurück in die 70er Jahre und zeigen Ihnen anhand von Bildern und Geschichten, wie sich das Leben in unserer Region verändert hat. Alle Folgen der Serie im Internet: www.suedkurier.de/geschichte