Als die 70-Jährige irgendwann an einem Juli-Wochenende 2021 stirbt, ist sie ganz allein. Allein in einer zugemüllten Wohnung. Vielleicht alleine mit Schmerzen und voller Angst. Niemand wird es je erfahren.
Keine Bestürzung, keine Tränen
Als ihre Vermieterin Anna F. aus Villingen (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) am Montag darauf erfährt, dass ihre langjährige Mieterin tot in der Wohnung gefunden wurde, ist sie schockiert. Noch mehr, als sie erfährt, unter welchen Umständen die Frau in ihren letzten Wochen und Monaten gelebt hat.
Und noch mehr, als sie deren Tochter anruft und über den Tod der Mutter informiert. Keine Bestürzung, keine Tränen am anderen Ende der Leitung. Nur zwei Worte: „Na endlich.“ So schildert es Anna F.
„Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, mich immer wieder gefragt, ob wir etwas hätten merken müssen.“Anna F., Vermieterin
In der Zwei-Zimmer-Einliegerwohnung im Haus der Familie F. liegt der Müll fast einen Meter hoch. Eine Million Fliegen schwirren und surren durch die Räume. In einem ausgesteckten Gefrierschrank liegt verwestes Fleisch, die stinkende Brühe frisst sich in den Küchenboden. Inkontinenzwindeln voller Exkremente liegen da, Kleidung, Bücher, Töpfe, Pfandflaschen.
Und Kartons, Kartons, Kartons.

„Sie hatte offenbar ihr komplettes Leben online organisiert“, sagt Anna F. Auch fast ein Jahr später, die Wohnung ist längst saniert und neu vermietet, ist die Villingerin bestürzt über den einsamen Tod der Frau. „Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, mich immer wieder gefragt, ob wir etwas hätten merken müssen“, sagt sie.
Bekannte rufen die Polizei
Vom Zustand der seit dem Jahr 2004 vermieteten Wohnung mit separatem Eingang ahnte die Familie nichts. Die Kriminalpolizei kommt. Später wird sich herausstellen, dass die Frau eines natürlichen Todes gestorben ist. Bekannte aus einer Whatsapp-Gruppe hatten sich um sie gesorgt und die Polizei alarmiert.

„Sie war eine ruhige und nette Dame“, erinnert sich Anna F. „Eine Mieterin, wie man sie sich wünscht.“ Der Kontakt sei freundlich gewesen, aber nie eng. Die Miete kommt pünktlich, hin und wieder begegnet man sich beim Einkaufen im nahegelegenen Supermarkt, wo die Frau adrett gekleidet ihren Trolley hinter sich herzieht.
Der Rollladen als Lebenszeichen
Besuch scheint selten bis nie zu kommen. „Eigentlich habe ich immer nur am Geräusch des Rollladens gemerkt, dass sie da ist“, sagt Anna F. Dass die Frau vor einigen Jahren an Krebs erkrankt war, hatte die Familie mitbekommen. Ebenso, dass es ihr dann wieder besser zu gehen schien.

Dass die Tote eine Familie hatte, erfährt Anna F. erst nach dem Auffinden der Frau. „Sie hatte insgesamt drei Kinder“, sagt sie. Eine Tochter lebt in der Region, die anderen weiter weg. Die Kinder signalisieren Anna F. schnell, dass sie das Erbe ausschlagen werden, dass sie der Tod der Mutter und der Zustand der Wohnung nicht interessiert. Ein geschiedener Mann ist an Demenz erkrankt und steht unter Betreuung.
- Der Bestatter: Wenn ein Mensch stirbt, sind die Verwandten der direkten Linie – Eltern, Geschwister, Kinder, oder nicht geschiedene Ehepartner bestattungsberechtigt wie auch
-pflichtig, sagt Norbert Hirt, Inhaber und Geschäftsführer des Bestattungshauses Preidel, Hirt und Butz aus Villingen. Mitunter werde die Kostenübernahme durch die Verwandten jedoch abgelehnt. „Wir haben immer wieder den Fall, dass Menschen ihren leiblichen Vater nie kennengelernt haben – und plötzlich sollen sie für die Beerdigung aufkommen“, nennt er ein Beispiel aus der Praxis. Das könne zwar abgelehnt werden – doch die Ortspolizeibehörde, die den Betrag in solchen Fällen vorstrecke, hole sich das Geld auch wieder zurück. Wenn tatsächlich gar keine Angehörigen auffindbar sind, trägt der Staat die Kosten. „Das ist dann die einfachste Art der Bestattung. Ohne Blumen, ohne Schmuckurne, ohne Zeitungsanzeigen“, sagt Norbert Hirt. Dennoch gestalte man die Kremierung und Beisetzung sehr pietätvoll, wenn möglich in eigener Kleidung, Decke und Kissen im Sarg seien selbstverständlich. Diese Beisetzungen finden auf einem speziellen Feld des Schwenninger Waldfriedhofes statt.
Die Familie F. lässt sich von einem Rechtsanwalt beraten, fotografiert und dokumentiert den katastrophalen Zustand – und beginnt auf eigene Rechnung mit der Renovierung. Mit Atemschutzmasken und Schutzanzügen.
Familie opfert den Jahresurlaub
Zwei Monate, drei Containerladungen, 20.000 Euro Materialkosten und einen Jahresurlaub später ist die Wohnung wieder vorzeigbar. „Mein Mann ist zum Glück handwerklich fit und wir haben das meiste selbst gemacht“, sagt Anna F. Das Bad entkernt, den Estrich herausgebrochen, die Tapeten von den Wänden gekratzt, eine neue Küche eingebaut.

- Der Entrümpler: Wer eine Wohnung nicht räumen kann oder will, ruft professionelle Entrümpler zur Hilfe. So wie Holger Dilger aus Villingen. Seit acht Jahren bietet der 38-Jährige seine Dienste an. Räumt aus, bestellt Container, entsorgt und oft zieht er am Schluss noch die Nägel aus der Wand. Die meisten seiner Aufträge kommen durch Umzüge ins Pflegeheim oder den Tod der Wohnungsinhaber zustande, sagt er. Etwa zehn bis 15 Prozent der Wohnungen seien „relativ voll“, wirklich chaotisch höchstens fünf Prozent. „Die meisten sind ordentlich. Holger Dilger weiß, dass es vielen schwer fällt, die Wohnung eines Angehörigen auszuräumen. „Oft wollen sie es selbst machen und schaffen es emotional nicht“, schildert er. Dann wird jeder Gegenstand in die Hand genommen, sich erinnert: Schau, das haben wir ihr doch 1998 zu Weihnachten geschenkt. „So wird man natürlich nie fertig.“ Von vielen falle eine enorme Last ab, wenn sie dieses emotionale Päckchen einer neutralen Person übergeben können. Von einer Frau aus Hamburg kam einmal eine Dankeskarte: Sie war froh, nach dem Tod ihrer Eltern das Kapitel Villingen abschließen zu können. „Die Karte habe ich sogar noch.“
Wann und wo ihre Mieterin bestattet wurde, weiß Anna F. nicht. Die Tochter der Toten sei ihrer Bitte, sie über die Beerdigung zu informieren, nicht nachgekommen. Die Villingerin macht das bis heute traurig. „Ich hätte ihr gerne wenigstens einen Blumenstrauß aufs Grab gelegt. So sollte niemand sterben.“
Post für eine Tote
Der Familie der Verstorbenen war scheinbar nicht nur der Zustand der Wohnung egal, sondern auch andere Verbindlichkeiten. Fast ein Jahr später schickt Amazon immer noch vereinzelt Pakete, adressiert an eine Tote. Offenbar wird der Rechnungsbetrag noch von irgendeinem Konto automatisch abgebucht.
Anna F. hatte zwischenzeitlich den Briefkasten zugeklebt und auf Deutsch und Englisch einen großen Zettel an die Tür gehängt mit dem Hinweis, dass die Bewohnerin verstorben sei. Vergebens. „Erst neulich hat ein Bote meinem Sohn wieder ein Paket in die Hand gedrückt.“
Sie haben es weggeworfen.