Laut schrillt die Trillerpfeife durch die Sporthalle der Schwenninger Friedensschule. Das Gemurmel verstummt. „Leise! Weitermachen!“, ruft Marko Juric durch die Halle. Und sie machen weiter, die 15 Athleten und eine Athletin des Boxing Club VS, die an diesem späten Nachmittag dort trainieren.

Heute ist Stabi an der Reihe

Runter in die Plank, Unterarme aufgestützt, Beine gestreckt, aus der Plank heraus immer ein Bein nach oben, runter, wieder hoch. Stabi steht auf dem Plan für heute, die Abkürzung für Stabilitätstraining.

Beim Boxtraining steht nicht der Zweikampf im Mittelpunkt. Ausdauer, Kraft und Koordination sind genau so wichtig. Hier wird gerade ...
Beim Boxtraining steht nicht der Zweikampf im Mittelpunkt. Ausdauer, Kraft und Koordination sind genau so wichtig. Hier wird gerade Stabilitätstraining absolviert. | Bild: Göbel, Nathalie

Boxen – das ist nicht nur Zweikampf und Schlagabtausch. Wer im Ring bestehen will, braucht auch Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Koordination und Disziplin. Und manchmal sind die größten Gegner der Sportler sie selbst, sagt Marko Juric.

Trainer, Zuhörer, Ratgeber

Der 24-jährige angehende Maschinenbauingenieur ist Trainer und Präsident des Boxing Clubs. Er trainiert nicht nur Athleten, sondern ist für einen Teil davon – zusammen mit seinen Trainerkollegen Albert Mut und Raphael Scherer – auch Zuhörer, Ratgeber und oft auch Sozialarbeiter.

Joachim Spitz von der Pro Kids-Stiftung (links) und Trainer Marko Juric. Die Pro Kids-Stiftung ist seit zwei Jahren Träger des Projekts ...
Joachim Spitz von der Pro Kids-Stiftung (links) und Trainer Marko Juric. Die Pro Kids-Stiftung ist seit zwei Jahren Träger des Projekts Fight for your life. | Bild: Nathalie Göbel

Beim Boxing Club VS gibt es nämlich eine Besonderheit: Das Projekt „Fight for your life“. Es integriert junge Menschen aus schwierigen sozialen Umfeldern in einen Sportverein und holt sie damit buchstäblich von der Straße. Im Training lernen sie, sich in eine Gemeinschaft einzufügen, sich an Regeln zu halten, mit Disziplin an eine Sache zu gehen und auch, Aggressionen abzubauen, ohne jemandem weh zu tun.

Die Zelle hat neun Quadratmeter

„Hier“, sagt Daniele Fanello, „findet mehr Resozialisierung statt als im Gefängnis. Da drehen sich die meisten Gespräche nur darum, was man angestellt hat.“ Der 24-jährige Schwenninger weiß, wovon er spricht. Er hat vier Jahre wegen verschiedener Vergehen in Haft verbracht, saß unter anderem in den Justizvollzugsanstalten Ravensburg, Freiburg und Stammheim.

Daniele Fanello trainiert bis heute bei Fight for your life. Er sagt: „Hier findet mehr Resozialisierung statt als im Gefängnis.“
Daniele Fanello trainiert bis heute bei Fight for your life. Er sagt: „Hier findet mehr Resozialisierung statt als im Gefängnis.“ | Bild: Nathalie Göbel

Er weiß noch gut, wie er zu Beginn seiner Haft einmal die Türklinke der Zelle nach unten drückte. Einfach, weil er nicht glauben konnte, dass dort, am Ende der neun Quadratmeter kleinen Zelle, sein Bewegungsradius erst einmal für lange Zeit enden würde.

Mit den Eltern klappt es auch wieder

Seit einem Jahr ist Daniele Fanello auf freiem Fuß. Heute hat er einen guten Draht zu seinen Eltern, sagt er, hat einen Job und trainiert auch wieder im Boxing Club als Teilnehmer von „Fight for your life“. Unter dem engen Sportshirt zeichnen sich hart antrainierte Muskeln ab, seinen Hals ziert ein großes Tattoo. Ein sportlicher junger Mann wie viele andere.

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Mit Unterbrechungen boxt Daniele seit seinem sechsten Lebensjahr, immer beim Boxing Club, wenn auch anfangs nicht als Teilnehmer des Sozialprojekts. Irgendwann fingen die Probleme an, blickt er zurück. Zu Hause, in der Schule. Dazu eine ADHS-Diagnose (Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom).

Erst herumhängen, dann Überfälle

„Ich hatte sieben Schulen durch“, sagt er. In Villingen, in Schwenningen, in den Ortsteilen. Gab es zu Hause Probleme, und die habe es oft gegeben, seien er und sein Zwillingsbruder auf der Straße gewesen. Herumhängen, erste Straftaten bis hin zu bewaffneten Überfällen. „Damals“, sagt er, „hat sich das richtig angefühlt.“ Heute weiß er: Es geht auch anders.

„Von meinen damaligen Freunden kam mich kein einziger besuchen.“
Daniele Fanello über die Zeit im Gefängnis
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Diese neue Sicht auf die Welt verdankt er nicht nur der Therapie, die er nach wie vor absolviert, sondern auch dem Box-Projekt. Den Menschen dort, die nicht nur in der Sporthalle für ihn da sind, sondern die ihn auch im Knast besucht haben. „Von meinen damaligen Freunden kam kein einziger.“

Georg Nikitin und Daniele Fanello trainieren Video: Göbel, Nathalie

Er hat eine Arbeit im Einzelhandel gefunden. Sein Chef weiß von seiner Vorgeschichte. Daniele ist dankbar für die Chance und spricht offen über seine Vergangenheit. Etwas, das er auch bei „Fight for your life“ gelernt hat: „Hier kann alles angesprochen werden. Egal, ob du Stress mit den Eltern oder in der Schule hast.“

Ein Zufluchtsort, Tag und Nacht

Die Sporthalle ist Danieles Zufluchtsort , Tag und Nacht – und er hat sogar einen Schlüssel, damit er sich jederzeit auspowern kann. „Dieses Vertrauen, das man in mich setzt, bedeutet mir wahnsinnig viel. Hier investieren viele Leute so viel Liebe.“

Trainer Marko Juric ist stolz, dass der Boxing Club bei der baden-württembergischen Jugendmeisterschaft den Pokal als bester Verein 2024 ...
Trainer Marko Juric ist stolz, dass der Boxing Club bei der baden-württembergischen Jugendmeisterschaft den Pokal als bester Verein 2024 gewonnen hat. | Bild: Nathalie Göbel

Marko Juric etwa, der bis zu seinem 19. Lebensjahr selbst aktiver Boxer war. Heute leitet er sechs Mal pro Woche das zweistündige Training. Hinzu kommen drei bis vier Stunden wöchentlich für die normale Vereinsarbeit wie Planung und Organisation, etwa für die Teilnahme an Wettkämpfen.

Bester Box-Club landesweit

Denn auch sportlich kann sich der Verein sehen lassen: So wurde Boxing VS erst vor wenigen Wochen als bester Box-Club Baden-Württembergs ausgezeichnet. Und dabei werden auch noch beide Stadtteile repräsentiert, sagt Marko Juric: „Wir holen die Medaillen nach Villingen und Schwenningen.“

Springen in der Koordinationsleiter: Alexandr Orlov (links) wärmt sich auf. Der heute 16-Jährige wurde 2022 deutscher Box-Vizemeister.
Springen in der Koordinationsleiter: Alexandr Orlov (links) wärmt sich auf. Der heute 16-Jährige wurde 2022 deutscher Box-Vizemeister. | Bild: Nathalie Göbel

So etwa der 16-jährige Alexandr Orlov. Der junge Schwenninger wurde 2022 deutscher Vizemeister in seiner Gewichtsklasse. Auch Alexandr gelangte über „Fight for your life“ zum Boxen. 2017 kam er mit seiner Familie aus Moldawien nach Deutschland.

Der Verein als zweite Familie

Ohne Sprachkenntnisse, ohne Anschluss. Heute trainiert der Neuntklässler sieben bis neun Mal pro Woche und sagt, dass er hier seine zweite Familie gefunden habe. Disziplin habe er im Club gelernt. Ganz nebenbei sei der Sport gut für seine Gesundheit. Anders ausgedrückt: „Ohne Boxen könnte ich nicht mehr leben.“